Kanada
in blauer Uniform trat aus der rechten Holzhütte, der wir uns näherten. Er rückte eine Polizistenmütze auf dem Kopf zurecht und winkte uns heran. Eine rote Fahne, die ich nicht kannte – aber mit einem kleinen Union Jack in der linken oberen Ecke – flatterte an einem Mast neben der Hütte. Auf einem Schild unter dem Mast stand: WILLKOMMEN IN KANADA. ÜBERGANG WILLOW CREEK, SASKATCHEWAN.
Die Hütte daneben war die amerikanische. Da wehten die Stars and Stripes – allerdings wohl kaum die Fahne mit den fünfzig Sternen inklusive Hawaii, nahm ich an. Eine Grenze bedeutete zweierlei auf einmal. Einreise und Ausreise. Ich reiste aus, was sich bedeutsam anfühlte. Ein kleinerer Mann ohne Kopfbedeckung, in einer anderen blauen Uniform, mit Abzeichen und Pistolenholster an der Seite, trat aus der amerikanischen Hütte in die Brise. Er beobachtete Mildred, die heranfuhr. Wahrscheinlich wusste er schon von mir und machte sich bereit, uns beide zu verhaften. Ich schaute geradeaus und verhielt mich still. Aus einem Grund, den ich nicht hätte erklären können, wollte ich, dass wir durchkamen, ich war aufgeregt und hatte zugleich Angst, wir könnten daran gehindert werden. Offenbar gehörte ich, was Mildreds zwei Menschentypen betraf, auch zu der ersten Gruppe. Warum wäre ich sonst da gewesen, wo ich jetzt war, bei all dem, was ich mit vollem Bewusstsein hinter mir hatte verschwinden sehen? Jenes Gefühl damals hatte ich nicht erwartet. Ich war allein in meinem Bett aufgewacht, hatte meiner Schwester nachgesehen, als sie aus meinem Leben ging, vielleicht für immer. Meine Eltern saßen im Gefängnis. Ich hatte niemanden, der sich um mich kümmerte oder sorgte. Was habe ich zu verlieren? , das war jetzt wohl die richtige Frage. Und die Antwort lautete – sehr wenig .
40
Der Highway nach Kanada hinein führte weiter durch endloses Ackerland, für mein Auge nicht zu unterscheiden von dem jenseits der Grenze, aber mit mehr Häusern und Scheunen und Windmühlen und Zeichen menschlicher Besiedelung. Die grünen Berge, die ich zuerst kurz hinter Havre erblickt hatte, waren laut Mildred die Cypress Hills. Wie die Alpen, sagte sie, ganz allein mitten auf die Prärie gesetzt – eine Anomalie aus der Zeit, als es noch Gletscher auf den Ebenen gab. Diese Berge hatten ihr eigenes Wald- und Tierleben. Die Leute, die dort wohnten, mochten Fremde nicht. Allerdings sahen die Städte, die wir passierten – Govenlock, Consul, Ravencrag, Robsart –, genauso aus wie jede normale Stadt in Montana. Wobei mir durch den Kopf ging, dass man bestimmt auch ein komisches Selbstgefühl hatte, wenn man an einem Ort aufwuchs, der so komisch hieß – schon allein Saskatchewan (den Namen hatte ich bislang selten gehört). Nichts in meinem späteren Leben konnte wieder so vollständig normal sein wie die Zeit in Great Falls.
Auf der Fahrt gen Norden unter der niedrig stehenden Spätnachmittagssonne sagte mir Mildred alles auf, was sie über Kanada wusste und für eventuell nützlich hielt. Kanada gehöre zu England und bestehe aus Provinzen, nicht vereinigten Staaten – was allerdings kaum einen Unterschied ausmache, bloß dass Kanada nur zehn hatte. Die meisten Leute sprächen Englisch, aber anders, sie konnte nicht ganz beschreiben, wie, aber ich würde es schon merken und dann auch lernen. Sie sagte, die hätten ihr eigenes Thanksgiving, aber das liege weder auf einem Donnerstag noch im November. Kanada habe in demselben Weltkrieg, in dem auch mein Vater gekämpft habe, an Amerikas Seite gestanden, sei sogar noch vor uns hineingezogen worden, weil Kanada der Königin von England gehorche, und es gebe eine Luftwaffe, die tatsächlich genauso gut sei wie unsere. Sie sagte, Kanada sei als Land nicht so alt wie Amerika und der Pioniergeist sei noch deutlicher spürbar, eigentlich begreife es niemand dort so recht als ein einziges Land, in einigen Gegenden sprächen die Leute sogar Französisch, und die Hauptstadt sei weiter östlich und würde von niemandem so respektiert wie Washington D.C. bei uns. Sie sagte, als Geld hätten die Kanadier auch Dollar, aber mit anderen Farben, und manchmal seien die rätselhafterweise sogar mehr wert als unsere. Außerdem habe Kanada seine eigenen Indianer, die besser behandelt würden als unsere, und Kanada sei größer als Amerika, allerdings zum größten Teil leer und unbewohnbar und die meiste Zeit unter einer Eisschicht.
Beim Fahren dachte ich über all das nach – und dass es Wirklichkeit wurde, sobald
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