Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
Vom Netzwerk:
man bloß an zwei Hütten vorbeifuhr, die irgendwo ins Nichts gepflanzt worden waren. Es ging mir jetzt besser als früher am Tag, als ich noch nicht wusste, wohin ich unterwegs war. So als wäre eine Krise vorbei oder ich wäre ihr entgangen. Es war schlicht Erleichterung. Ich wünschte nur, Berner wäre bei mir geblieben und wir hätten es gemeinsam erlebt.
    Weizenfelder, nichts als Weizenfelder. Die Nachmittagsluft war süß und kühl. Ich erkannte einzelne Staubwirbel, wo in der Ferne gerade Farmer mit ihren Mähdreschern unterwegs waren. Getreidelaster standen auf den Stoppelfeldern und warteten auf ihre Ladung Weizen zum Abtransport. Kleine ferne Gestalten liefen um die Laster herum, während die Mähdrescher abluden, dann fuhren die Laster los. Seit wir die bergige Gegend verlassen hatten, konnte sich das Auge in der Landschaft an nichts mehr festhalten. Keine Berge, keine Flüsse – wie die Highwoods, die Bear’s Paw Mountains oder der Missouri –, die einem sagten, wo man gerade war. Es gab auch weniger Bäume. Ein einzelnes flaches weißes Haus mit einem Windschutz und einer Scheune und einem Traktor war in der Ferne zu erkennen, später noch eins. Der Lauf der Sonne, der konnte einem sagen, wo man war – und das, was man persönlich kannte: eine Straße, einen Zaun, die Richtung, aus der üblicherweise der Wind kam. Sobald die Berge hinter uns verschwunden waren, fehlte das Gefühl für einen identifizierbaren Mittelpunkt, zu dem andere Punkte in Bezug standen. Hier konnte jemand leicht verlorengehen oder verrückt werden, denn der Mittelpunkt war überall und alles gleichzeitig.
    Mildred erzählte mir einiges über ihren Bruder, Arthur Remlinger. Er sei Amerikaner, achtunddreißig, und vor Jahren aus freien Stücken nach Kanada gezogen. Er sei der Einzige in ihrer Familie, der studiert habe, in der Hoffnung, Anwalt zu werden, doch aus verschiedenen Gründen habe er abgebrochen und sei von Amerika enttäuscht. Er wohne ein Stück weiter nördlich in einer Kleinstadt namens Fort Royal, Saskatchewan, wo er ein Hotel betreibe. Eigentlich sei es nur Zufall, sagte sie, dass sie und er auf gegenüberliegenden Seiten der Grenze lebten. Sie treffe ihn unregelmäßig, aber das sei unwichtig. Sie liebe ihn. Ihr Bruder sei bereit, mich in seine Obhut zu nehmen, sagte sie, weil ich Amerikaner sei und nicht wisse, wo ich hin solle, außerdem tue er es ihr zuliebe. Er würde mich schon zu beschäftigen wissen. Er habe keine eigenen Kinder, daher sein Interesse an mir – und an Berner, wenn sie nicht weggelaufen wäre. Er sei ein ungewöhnlicher Mann, das würde ich bald merken. Kultiviert und intelligent. Ich würde viel von ihm lernen und ihn bestimmt mögen.
    Mildred entschloss sich zu einer weiteren Zigarette und blies den Rauch aus ihren großen Nasenlöchern gleich zum Fenster hin. Sie saß seit Stunden am Steuer – um mich aus meiner gefährlichen Lage zu retten. Sie konnte ja nur erschöpft sein. Ich versuchte mir vorzustellen, wo wir hinfuhren – Fort Royal, Saskatchewan. Das klang fremd. Und bedrohlich, weil es fremd war. Ich sah die immergleiche Prärie vor mir, die uns umgab, und dort hatte ich keinen Platz.
    »Wie lange werde ich bei Ihrem Bruder bleiben?« Ich musste ja irgendetwas sagen.
    Mildred setzte sich aufrechter hin und packte das Steuerrad mit beiden Fäusten. »Ich weiß es nicht. Das müssen wir sehen. Aber fang gar nicht erst an, dich zu bemitleiden – Zeitverschwendung.« Ihre Zigarette hing in einem Mundwinkel, aus dem anderen sprach sie. »Bis du stirbst, wird dein Leben dir noch alles mögliche Aufregende servieren. Also halt dich lieber an die Gegenwart. Schließ nie etwas aus und sorg dafür, dass du auf das, was du hast, immer problemlos verzichten kannst. Das ist wichtig.« Dieser Rat klang nicht viel anders als das, was unser Vater Berner und mir gesagt hatte, als wir dann doch nicht auf den Jahrmarkt fuhren. Mir war klar, dass Erwachsene so dachten, allerdings war meine Mutter der genau entgegengesetzten Meinung. Sie hatte immer sehr vieles ausgeschlossen und die Welt nur nach ihren eigenen Bedingungen gedeutet. Mildred blies die Backen auf und wedelte sich Luft zu, ihr war heiß in ihrem grünen Seidenkleid. »Dringt das zu dir durch?« Sie streckte eine Hand zu mir herüber und pochte mit ihrer weichen Faust auf mein Knie, so wie man an eine Tür klopfen würde. »Na? Klopf, klopf?«
    »Glaub schon«, sagte ich. Obwohl es eigentlich egal war, ob ich ihrer Meinung war oder

Weitere Kostenlose Bücher