Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
Missachtung aller Vorschriften seine enge Kabine vollqualmte. Das war Bellmanns Art zu frühstücken.
Die Stille fiel Heiner Mahlsen heute besonders auf. Ob das am Wetter lag? Auf der letzten Baustelle, auf der eine Seniorenwohnanlage in der Kieler Innenstadt entstehen sollte, hatten frühmorgens schon Vollzeit-, Tages- oder Großmütter mit Kindern am Bauzaun gestanden und ihn und seinen Bagger bestaunt, eine Tatsache, die ihn manchmal mit einem gewissen Stolz erfüllt, manchmal aber auch total genervt hatte.
Jeder Zweijährige wollte Baggerfahrer werden. Mahlsen wusste es besser. Das war kein leichter Job, und der Spaß hielt sich in Grenzen, schon allein weil es immer einen sehr engen Terminplan gab, den es einzuhalten galt. Früher war Mahlsen Lokführer gewesen. Doch nach dem zweiten Selbstmörder, der ihm bei voller Fahrt auf die Schienen gesprungen war, hatte er den Dienst quittieren müssen. Seine Psyche hatte nicht mehr mitgespielt, sein Körper rebelliert.
Mittlerweile ging es ihm besser. Er konnte wieder arbeiten, und er musste sich vorläufig keine Sorgen um seinen Arbeitsplatz machen. Allein die Baustelle am Kanal würde ihn noch eine Weile beschäftigen. Es war ja nicht nur die Uferböschung zu erneuern. Ein ganzer Abschnitt des Nord-Ostsee-Kanals wurde ausgebaut. Zwischen Kiel und Königsförde veränderte man Breite, Tiefe und Kurvenradius der Wasserstraße. Man riss sogar die alte Hochbrücke ab, um sie durch eine größere, modernere zu ersetzen. Und baute für die Zukunft – was in diesem Land nicht mehr selbstverständlich war. Das Verkehrsaufkommen auf dem Kanal wuchs, und man musste für die immer größeren Kreuzfahrt- und Containerschiffe planen. Für die Tiefbaufirma, für die er tätig war, bedeutete das Arbeit für Monate, vielleicht sogar für Jahre.
Um neun Uhr vierzehn startete Heiner Mahlsen den Motor. Bellmann schnippte seine zweite Kippe aus dem Fenster und schmiss ebenfalls seine Maschine wieder an. Bis zum Eintreffen des Lkws würde Mahlsen sich mit einer Kiesaufschüttung beschäftigen, die oberhalb der Kanalböschung lag. Ein junger Kieswagenfahrer hatte die Anweisungen falsch verstanden und feinsten Baukies an einer Stelle abgekippt, an der die Planierungsarbeiten noch gar nicht abgeschlossen waren. Das war Anfang letzter Woche gewesen.
Mahlsen steuerte auf die weichen Sandberge zu. Der Wind war darübergeweht, und ihre Konturen flossen bereits ineinander. Trotzdem sahen die Haufen ein bisschen so aus wie das Spritzgebäck, das seine Noch-Ehefrau so oft gebacken hatte. Sie hatte ihn vor wenigen Monaten verlassen, und beim Gedanken an sie spürte er noch immer Wut und Traurigkeit in sich aufsteigen.
Die Oberfläche des Sandes war bereits getrocknet, und es staubte, als er mit der Schaufel tief in den Haufen hineinstieß. Der schwere Boden unter dem Sand war durch die Arbeit der Kettenfahrzeuge schon sehr verdichtet und enthielt gelegentlich größere Feldsteine. Aber Mahlsen kannte sich aus. Die Schaufel fuhr in den Kies und kam gut gefüllt in die Höhe. Er betätigte den Rückwärtsantrieb blickte in den Rückspiegel und setzte nach hinten. Als er wieder nach vorne auf seine Schaufel sah, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. In der Schaufel befand sich außer dem hellen Kies auch loser dunkler Mutterboden. Aber das war nicht das Einzige, was er aufgeladen hatte. Es schienen auch mehrere unförmige Steine dabei zu sein. Merkwürdig war nur, dass er gar keine Geräusche bemerkt hatte.
Heiner Mahlsen sah ratlos auf die Brocken in der Baggerschaufel. Plötzlich glaubte er eine Kontur zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen und erstarrte. Ihm wurde schwindlig. Der Boden der Kabine schien unter ihm zu schwanken, dann wurde ihm übel. Speichel floss in seinem Mund zusammen. Er beugte sich zur Seite, und noch bevor er die Tür öffnen konnte, übergab er sich. Mit zitternden Händen stoppte er den Motor. Er bemerkte nicht, dass Bellmann irritiert zu ihm hinübersah und ein paarmal laut hupte. Es gab keinen Zweifel: Auf der Baggerschaufel, halb verborgen im sandigen Kies, lag der Körper eines Toten.
22
A m Montagmorgen schlief Island tief und fest. Das Fenster stand offen. Langsam, aber unaufhaltsam wanderten die Strahlen der Morgensonne über das Kopfkissen und begannen, sie am Kinn wach zu kitzeln. Gerade hatte sie im Traum noch mit Lorenz in einem feinen Restaurant am Berliner Gendarmenmarkt gesessen, vor sich eine Platte voll mit köstlichen, brandenburgischen
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