Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
Himmel zu wachsen schien. Sie taumelte auf das Brückengeländer zu. In allerletzter Sekunde gelang es ihr, die Arme nach vorn zu reißen und einen Aufprall zu verhindern. Das Pferd hinter ihr bäumte sich auf, der Reiter brüllte und riss die Zügel an sich. Dann rutschte er aus dem Sattel. Es knallte, als er mit dem Reithelm auf die Holzplanken der Brücke schlug.
Island schnappte nach Luft. Als sie wieder halbwegs bei Sinnen war, beugte sie sich zum Reiter hinunter. »Ist Ihnen etwas passiert?«
Der Mann rappelte sich auf. Mit gekrümmtem Rücken klopfte er sich Staub von der Kleidung. »Was machen Sie eigentlich hier?«, schimpfte er. »Sind Sie verrückt?«
»Das könnten wir ebenso gut Sie fragen!«, entgegnete Island wütend.
Frau Dormann hatte die Geistesgegenwart besessen, das Pferd am Zügel zu packen, es zu Boden zu ziehen und festzuhalten. Nun redete sie beruhigend auf das Tier ein.
»Herr Dr. Tüx«, sagte sie, »entschuldigen Sie vielmals, wir haben Sie nicht kommen hören!«
Er betastete seine Schultern, während Island sich den Bauch hielt. Sie war immer noch außer sich, dass ihr das Pferd so nahe gekommen war.
»Wieso reiten Sie harmlose Passantinnen über den Haufen?«, schrie sie ihn an.
»Sie hätten mich doch hören müssen!«, konterte er scharf.
»Das ist ja wohl eine Frechheit«, sagte Island drohend. »Haben Sie keine Augen im Kopf?«
Der Mann in der feinen Reitkleidung stemmte die Hände in die Hüften und musterte sie streng.
»Oh«, sagte er plötzlich und sah sie besorgt an. »Sie sind ja in anderen Umständen. Geht es Ihnen gut?«
»Ich glaube, ja.«
»Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein. Es geht schon.«
Er nickte, wandte sich wieder dem Pferd zu und nahm die Zügel.
»Ihre Frau ist gerade vorbeigeritten«, mischte sich Frau Dormann ein. »Sind Sie nicht zusammen unterwegs?«
»Nein.« Er saß wieder auf. »Schönen Abend noch.«
Sobald er die Brücke verlassen hatte, gab er dem Pferd die Sporen.
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte Lotti Dormann.
»Ich glaube schon«, antwortete Island. »Und das war also Herr Tüx persönlich?«
»Eigentlich ist er ein sehr netter Mensch.«
»Außer dass er meint, er könnte blind in der Gegend rumrasen mit seinem Gaul, und wer im Weg steht, hat
selber schuld«, entgegnete Island. »Kennst du ihn näher?«
»Ich habe schon öfter mal ein paar Worte mit ihm gewechselt.«
»Hat er Probleme mit seiner Frau?«
»Weil sie zur selben Zeit getrennt ausreiten? Das Übliche, denke ich.«
»Das Übliche?«
»Einfach zu lange verheiratet.«
27
A uf der Rückfahrt summte Frau Dormann leise eine Melodie, während Island versuchte, nicht an die Gondeln von Venedig und an Lorenz zu denken.
»Machen wir mal wieder, so eine kleine Ausfahrt, was?«, meinte Frau Dormann, als sie sich vor dem Verwalterhaus verabschiedeten.
»Gern«, antwortete Island.
Zurück auf dem Zimmer, öffnete sie sofort ein weiteres Glas Würstchen. Noch während sie kaute, schaltete sie zum ersten Mal seit ihrer Ankunft den Laptop ein, verband ihn per Kabel mit dem Zimmeranschluss und begab sich ins Internet. Bei ihren E-Mails war wieder keine Nachricht von Lorenz. Sie suchte im Netz nach dem Namen Lissy Heinke, fand aber nichts, nicht einmal bei Facebook.
In der Nacht schlief sie unruhig. Das Dach des Hauses hatte die Hitze des Tages gespeichert, trotz der offen stehenden Fenster war es im Zimmer warm wie in einem Backofen. Sie träumte von Berlin, von einem chaotischen Einsatz in einer dunklen Gegend. Um kurz nach drei Uhr nachts wachte sie auf. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. Sie ging ins Bad und füllte sich einen Zahnputzbecher mit Wasser. Zum Trinken setzte sie sich in den Sessel unter dem Fenster. Am östlichen Himmel war schon schwach die Dämmerung zu erahnen.
Plötzlich ging drüben auf dem Hof mit einem Schlag wieder die Beleuchtung an. Warum waren die da drüben so nachtaktiv? Waren die jungen Freunde des Sohnes nachts in irgendwelchen Dorfdiskos unterwegs? Sie hatte immer gedacht, dass High-Society-Kids doch eher in irgendwelchen Nobelklubs in angesagten Großstädten abhingen. Sie starrte auf die Scheunendächer, bis das Licht wieder erlosch. Dann wurde in der ersten Etage des Gutshauses in mehreren Zimmern die Beleuchtung angeschaltet. Island griff nach dem Fernglas, aber diesmal waren alle Vorhänge zugezogen.
Morgens um acht meldete sich das Handy.
»Moin«, grüßte Hans-Hagen Hansen fröhlich und energiegeladen. »Du wolltest doch etwas
Weitere Kostenlose Bücher