Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
gehen.
»Könnten wir mal aussteigen?«, fragte sie.
»Warum nicht?«
Der Himmel über dem Wald begann sich orange zu färben. Es war kurz vor zehn, als Lotti Dormann das Boot behutsam an die Holzschwelle bugsierte, die als Anlegestelle diente. Island kletterte von Bord und vertäute das Seil an einem Metallrohr. Sie war froh, sich endlich mal wieder strecken zu können. Die Grasflächen um die Schleusenkammer herum waren frisch gemäht, aber ein Bauzaun verhinderte, dass man der Schleuse zu nahe kam.
Fritzi rannte über die Wiese und verschwand hinter der verwilderten Hecke des Schleusenwärterhauses. Frau Dormann trabte hinter ihm her. Island folgte ihr durch die offen stehende Pforte. Während ihre Begleiterin zum Haus spazierte und neugierig in die dunklen Fenster schaute, hockte sich Island hinter einen blühenden Holunderbusch. Die Grillen zirpten. Der Garten war in rötliches Licht getaucht. Eine eigenartige Stimmung lag in der Luft.
»Weißt du, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht?« Frau Dormann spähte durch die Fenster in das Haus hinein. Island sah ihr von hinten über die Schulter. Der Raum drinnen war fast leer geräumt. Ein einsamer Gasherd stand von der Wand abgerückt.
»Im Haus?«
»Nein, an der Schleuse.«
»Inwiefern?«
Lotti Dormann senkte die Stimme. »Am Montag vor einer Woche habe ich mit Fritzi einen langen Abendspaziergang gemacht. Wir haben das Gutsgelände durch das hintere Tor verlassen und sind am Kanal entlanggewandert. Bis hierher. Ich hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber es muss schon weit nach elf gewesen sein, als ich auf der Brücke dort drüben stand.«
Sie deutete zum Schleusenbecken. Eine baufällig wirkende Brücke mit einem Metallgeländer führte trotz des Bauzaunes hinüber. Während Island sich umsah, meinte sie Hufschläge zu hören, die sich schnell näherten. Ein weißes Pferd mit einer grazilen Reiterin trabte vorsichtig über die Brücke. Stefanie Rubi-Tüx machte einen Abendausritt. Sobald sie die Brücke überquert hatte, trieb sie das Pferd an, das gehorsam in Galopp fiel. Sie ritt in Richtung der Gutsländereien davon.
Frau Dormann, die ihr nachblickte, fuhr fort: »Ich habe noch ein bisschen verschnaufen wollen und mich auf die Brüstung gelehnt. Und was soll ich sagen? Da waren Lichter im Wasser.«
»Lichter?«
»Ich war mir erst nicht sicher und habe mich umgesehen, weil ich dachte, dass das Licht vielleicht von einem Schiff auf dem Nord-Ostee-Kanal stammt. Positionslichter oder so was. Aber nein, es war kein Schiff in der Nähe.«
»Also waren es Geisterlichter?«
»Was kann es sonst gewesen sein?«
»Wird die Schleuse doch noch benutzt?«
»Sie ist seit Jahren außer Betrieb. Du hast doch selbst das Schild gesehen. Und alles ist abgesperrt.«
»Vielleicht hat sich ja der Mond auf dem Wasser gespiegelt?«
»Ja, vielleicht«, gab Frau Dormann zu. »Aber auf dem Rückweg hatte ich eine merkwürdige Begegnung am Achterwehrer Schifffahrtskanal. Jon ist mir entgegengekommen.«
»Er war auf dem Weg zur Schleuse?«
»Erst habe ich nur eine Taschenlampe gesehen, die sich auf mich zubewegte. Ich habe Fritzi die Schnauze zugehalten und mich in die Büsche geduckt. Es wurde schon dunkel, und mein Herz hat wie wild geklopft, das kannst du mir glauben. Ich bin sicher, dass es Jon war, denn ich habe ihn an seinem Aftershave erkannt. Aber da war er schon an mir vorbei. Ich habe mich dann ganz still verhalten, denn ich wollte ihn nicht erschrecken.«
Island schob sich nachdenklich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Was mag der da gewollt haben?«
»Keine Ahnung.«
»Lass uns einmal auf die Brücke gehen, bevor wir zurückfahren.«
Die Nase am Boden, verfolgte Fritzi Kaninchenspuren, während sie am Bauzaun entlang über die Schleusenwiese gingen. Sie spazierten über die mit Holzplanken ausgelegte Brücke und blickten hinunter. Das Schleusentor auf dieser Seite der Kammer stand zum Nord-Ostsee-Kanal hin offen. Es war rostig und an einigen Stellen mit Moos und Flechten überzogen. Sechs oder sieben Meter unter ihnen schwappte das Wasser in die Strohbrücker Schleusenkammer hinein. In einiger Entfernung, doch mit beträchtlicher Lautstärke rauschte ein Wehr. Dort floss das aufgestaute Wasser des Seitenarms in den großen Kanal ab.
Plötzlich hörte Olga Island ein lautes Schnaufen direkt neben ihrem Ohr. Erschrocken sprang sie zur Seite. Dabei prallte sie mit dem Rücken gegen einen Körper, der sich hektisch bewegte und immer höher in den
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