Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
denn sie hatte dort ein paar dringende Sachen zu klären. Unter den fragenden Blicken von Frau Dormann belegte sie sich noch zwei Brötchen, wickelte sie in eine Serviette und quetschte sie in ihre Handtasche.
»Ich bin heute unterwegs«, erklärte sie.
Frau Dormann fragte nicht weiter nach, doch auf ihrer Stirn stand eine strenge, nachdenkliche Falte.
Island ging hinüber ins Gutshaus, um sich die Zähne zu putzen und ihre Sachen für den Tag zu packen. Sie wollte auch ihren Laptop mitnehmen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, als hätte jemand versucht, ihr Passwort zu knacken. Wer mochte gestern Nacht in ihrem Zimmer gewesen sein? Immerhin hatte derjenige später brav das Licht hinter sich ausgemacht.
Auf der Treppe hörte sie, wie ihr eine Person mit flotten Schritten folgte. Oben im Gang überholte Frau Markowich sie und grüßte flüchtig. Sie war wie immer in korrektem dunkelblauem Sommerkostüm mit weißer Bluse gekleidet und sah doch irgendwie etwas derangiert aus. Na, dachte Island bei sich, warst du heute Nacht in meinem Zimmer zum Schnüffeln? Hast du deshalb so dunkle Augenringe? Oder gibt es sonst etwas Neues, was ich wissen sollte?
Frau Markowich verschwand in dem unbewohnten Gästezimmer mit der Wendeltreppe, die in die unteren Etagen und die Räume des Südflügels führte. Island schlich hinter ihr her. Sie hörte Frau Markowichs Absätze beim Hinabsteigen der Stufen klackern. Offenbar wurde sie unten erwartet, denn sofort redete eine laute Frauenstimme auf sie ein. Island beugte sich über das Treppengeländer.
»Ich habe einen dringenden Arzttermin in Hamburg«, sagte Stefanie Rubi-Tüx. »Also sagen Sie schon, was los ist.«
»Gnä’ Frau«, sagte Frau Markowich mit singendem, österreichischem Akzent. »Bittschön, entschuldigen Sie. Das Frühstück steht bereit, aber ich kann die jungen Herrschaften nicht finden. Wissen Sie vielleicht, wo sie sich aufhalten?«
»Die Kinder?«
»Es sieht so aus, als hätten sie heute Nacht nicht in ihren Betten gelegen.«
»Und wo sollten sie sein?«
»Das weiß ich nicht. Ich dachte, dass eventuell Sie …«
»Nein«, sagte die Dame des Hauses streng. »Fragen Sie meinen Mann, er soll in seinem Überwachungssystem nachsehen, ob sie den Hof verlassen haben.«
»Ihr Mann ist heute Morgen nach Brüssel geflogen.«
»Dann soll von Dünen das machen.«
»Das hat er schon. Aber sie haben das Gelände durch keines der Tore verlassen.«
»Dann müssen sie noch drin sein. Ich kann Ihnen jetzt nicht helfen, mein Arzt wartet nicht. Machen Sie sich mal keine Sorgen, die Kinder genießen hier ihre Freiheit. In der Schule werden sie doch ständig kontrolliert. Ich bin ja auch bald wieder zurück.«
Wie immer öffnete sich das grüne Tor beim Hinausfahren automatisch. Island unterdrückte den Impuls, eine Grimasse zu schneiden und obszöne Gesten zu machen, damit Theodor Tüx auf seinem Überwachungsfilm später etwas zu sehen hatte. Sie fuhr den sandigen Weg entlang und rollte langsam den Abhang hinab. Es hatte sich zugezogen, die Sonne war von dünnen Wolken verdeckt. Ein bleiernes Licht lag auf der verwaisten Wiese am See.
Island stoppte den Wagen. Sie stieg aus und sah sich um. Ein öder, abgelegener Ort in einer stillen Landschaft. Ob die Kameras von Kreihorst bis hierherreichten? Sie öffnete den Kofferraum und holte ihren alten Regenschirm, den sie vor ihrer Abreise in Kiel hineingelegt, aber bisher noch nicht benutzt hatte. Sie hatte das Gefühl, dass in den wenigen Tagen auf dem Land ihr Bauch schon wieder ordentlich gewachsen war.
Der Schirm hatte einen Handgriff wie ein Wanderstock, und wenn sie sich daraufstützte, tat ihr Rücken, der den schweren Bauch halten musste, beim Gehen nicht mehr so weh. Mühsam stieg sie den Weg, den sie eben hinabgefahren war, wieder hinauf. Hier begannen die Spülfelder. Je weiter sie vorankam, desto stiller wurde es um sie her. Kein Windhauch störte die Ruhe, kein Vogelzwitschern, kein Klatschen der Wellen an das nahe Seeufer. Der Sand und die Weidenbüsche schienen alle Geräusche zu verschlucken. Das Gelände war unwegsam und verwildert.
Wenn Henna Franzen wirklich hier entlanggeritten war, welchen Weg hatte sie wohl genommen? Island bemerkte Hufspuren zu ihren Füßen und blieb stehen. Es musste ein kleineres Pferd gewesen sein, vielleicht nur ein Pony. Trotzdem waren die Hufe tief in den sandigen Boden eingedrungen und hatten ihn aufgewühlt. Zwischen zwei flachen Weidenbüschen bog die Spur des Tieres
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