Kandide oder die beste aller Welten
führte. Man gab ein neues Trauerspiel. Kandide saß bei einigen Schöngeistern. Demungeachtet weint' er in einigen meisterhaft gespielten Szenen. Einer von den neben ihm sitzenden Kritlern sagte in einem Zwischenakte: Sie vergießen ohne alle Ursach Tränen, mein Herr. Die Schauspielerin ist erbärmlich, ihr Mitspieler noch erbärmlicher und das Stück noch weit erbärmlicher wie die Schauspieler. Die Szene liegt in Arabien, und doch versteht der Verfasser kein Wort Arabisch; glaubt überdies nicht einmal an angeborne Ideen, der elende Wicht! Morgen will ich Ihnen zwanzig Traktätchen mitbringen, alle gegen den Dramatifex gerichtet.
Wieviel dramatische Stücke haben Sie wohl in Frankreich! frug Kandide den Abbé. Fünf- bis sechstausend, antwortete er. Viel, und wieviel gute darunter? sagte Kandide. Fünfzehn, erwiderte jener. Noch immer viel! versetzte Martin.
Kandide gefiel eine Schauspielerin sehr, welche die Königin Elisabeth in dem ziemlich platten Trauerspiel dieses Namens machte, das wohl bisweilen gegeben wird. Ein recht brav Mädel die Aktrice, sagt' er zum Martin. Sie hat etwas von Baroneß Kunegunden an sich; ich möcht' ihr gern mein Kompliment machen. Der Abbé aus Perigord war gleich mit dem Anerbieten bei der Hand, ihn bei ihr einzuführen. Kandide; in Teutschland geboren und erzogen, fragte, was hiesige Etikette sei, und wie man in Frankreich den Königinnen von England begegnete. In der Provinz, Herr Baron, antwortete der Abbé, führt man sie in's Wirtshaus, zu Paris hält man sie in hohen Ehren und Würden, wenn sie schön sind; sterben sie, so wirft man sie auf den Schindanger. Königinnen auf den Schindanger? fragte Kandide. Ja wahrlich! der Herr Abbé hat Recht, sagte Martin; ich war zu Paris, als Demoiselle Lecouvreur das Zeitliche mit dem Ewigen vertauschte, wie man zu sagen pflegt; man verweigerte ihr, was die Leute hier zu Lande ein ehrliches Begräbnis nennen, das heißt, man wollte sie nicht mit all' den Bettlern aus einem Stadtviertel auf einem lumpichten Kirchhof zusammen vermodern lassen; ihre Bande verscharrte sie an einer Ecke der Rue de Bourgogne, ganz allein; das muß ihrem armen Seelchen mehr denn die folterndste Höllenpein sein, denn es war immer ein sehr nobeldenkendes Mädchen gewesen.
Sehr ungeschliffen! sagte Kandide. Was tun? antwortete Martin. Die Leute sind nun einmal hier so. Denken Sie sich alle möglichen Widersprüche, alle möglichen Ungereimtheiten in eine Masse zusammengeknetet, so haben Sie die Regierungsform, die Gerichtshöfe, die Kirchen, die Schauspiele dieser drollichten Nation.
Ist es wahr, daß man zu Paris beständig lacht? frug Kandide. Das tut man, sagte der Abbé, es ist aber eine bittre Lache, die Lache kochender Wut; man bringt dort die herzschneidendsten Klagen mit der schallendsten Lache hervor, ja verrichtet sogar die abscheulichsten Handlungen mit lachendem Munde. Wer war denn das dicke Schwein, sagte Kandide, das auf ein Stück lästerte, worin ich so geweint habe, und auf Schauspieler, die mir so gefallen hatten? „Ein elender hungerleiderscher Duckmäuser, der um ein paar Bissen Brot zu verdienen, alle Stücke und alle Bücher herunterlästert; jeden emporkommenden Schriftsteller haßt, wie der Verschnittne den vollglücklichen Liebhaber; eins von jenen Literaturinsekten, die sich bloß von Dreck und Gift und Geifer nähren; es ist ein gallsüchtiger Neidhart." Ein gallsüchtiger Neidhart? sagte Kandide. „Ei ja! So ein Flugblättler, ein gewisser Fréron."
So schwatzten Kandide, Martin und der Abbé aus Perigord auf der Komödienhaustreppe und sahen die Zuschauer alle neben sich vorbeiziehn. So vielen Drang ich auch fühle, Baroneß Kunegunden zu sehn, sagte Kandide, so möcht' ich doch wohl heut abend mit Demoiselle Clairon speisen. Es scheint mir ein ganz herrliches Mädchen.
Der Herr Abbé war ein zu jämmerliches elendes Wichtchen, um Zutritt bei der Demoiselle Clairon zu haben, bei der sich stets der angesehenste Zirkel befand. Auf heut abend ist sie versagt, hub der aus Perigord an, ich werd' aber die Ehre haben, den Herrn Baron zu einer vornehmen Dame zu führen, wo Sie Paris so sollen kennenlernen, als hätten Sie sich vier Jahr hier aufgehalten.
Der von Natur neugierige Kandide ließ sich zu der Dame führen, die am äußersten Ende der Vorstadt St. Honore wohnte. Man war dort mit Pharao beschäftigt. Zwölf sauertöpfige Pointeurs hatten jeglicher sein Büchelchen Karten in der Hand, das eselsgeöhrte Verzeichnis ihrer
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