Kandide oder die beste aller Welten
Unglücksfälle.
Überall war das tiefste Stillschweigen; Totenblässe saß auf der Stirn des Pointeurs; Besorgtheit auf der Stirn des Bankiers, und die Dame vom Hause, die diesem unbarmherzigen Bankier zur Seite saß, gab mit Falkenaugen auf alle Parolis und sept-et-le-va de campagne acht, wozu jeder Spieler seine Karten kniff; streng auflauernd aber mit Feinheit ließ sie alle Eselsohren wieder ausmachen und bange, ihre Kunden zu verlieren, ward sie gar nicht aufgebracht. Diese Dame hieß die Marquise de Parolignac.
Ihre fünfzehnjährige Tochter befand sich unter den Pointeurs und verriet durch einen Augenwink all die Gaunereien dieser armen Teufel, die der ihnen griesgramenden Fortuna ein Lächeln abzwingen wollten.
Der Abbé, Kandide und Martin traten herein. Niemand stand auf, bekomplimentierte sie, blickte gar auf sie hin; sie waren insgesamt mit ihren Karten viel zu sehr beschäftigt. Die Frau Baronessin von Donnerstrunkshausen war weit höflicher, sagte Kandide.
Indes hatte sich der Abbé dem Ohr der Marquise genähert; sie lüpfte sich ein wenig in ihrem Armstuhl, beehrte Kandiden mit einem graziösen Lächeln, Martinen mit einem hochadlichen Kopfneigen, und ließ Kandiden einen Stuhl und Karten reichen. In zwei Taillen hatte er fünfzigtausend Franken verloren. Hierauf nahm man in der größten Fröhlichkeit das Souper. Jedermann erstaunte, daß Kandide bei seinem Verluste so kalt blieb, und die Bedienten sagten untereinander in ihrer Bedientensprache: Das muß mein Seel ein englischer Mylord sein.
Das Souper glich den meisten parisischen Soupers. Erst war alles still, dann entstand mit einemmal ein Wortgetöse, wobei niemand hörte, was er selbst sagte, alsdann strömte man in Scherzen, Einfällen aus, die meistenteils herzlich schal und kahl waren, brachte falsche Neuigkeiten aufs Tapet, schiefe Räsonnements; es ward ein bißchen gekannegießert, und viel geafterredet; man schwätzte und krittelte sogar über neue Bücher.
Der Abbé fragte: Haben sie schon den neuen Roman gelesen, den. der Doktor Theologiä Herr Gauchat, geschrieben? Leider, sagte einer von den Gästen, aber nicht bis zu Ende. Es war mir unmöglich. Es kömmt viel albern Zeug heraus, aber so was Albernes, wie der Wisch vom Herrn Doktor Gauchat, hab' ich noch nie gesehn; die Sündflut von abscheulichen Schriften, womit wir überschwemmt sind, die einem ganz bis ans Kinn dringt, verekelt einem alles Bücherlesen dermaßen, daß ich mich auf's Pointieren gelegt habe. Und was sagen Sie zu den vermischten Schriften des Archidiakonus T..." fragte der Abbé.
Ein unausstehliches Geschöpf! rief die Frau von Parolignac. Wohlbekannte alltägliche Dinge kramt er mit der geheimnisvollsten Miene aus; was nur einer hingeworfnen Bemerkung bedarf, erörtert er aufs weitschweifigste und schwerfälligste; ohn' einen Funken Witz zu haben, eignet er sich andrer Leute ihren zu; was er stiehlt, verdirbt er durch den Senf, den er darüber schüttet. Der Mann macht mich ganz wild! Doch er soll's nicht mehr. Mehr denn zuviel, wenn man vom Herrn Archidiakonus ein paar Seiten gelesen!
Ein Mann von Gelehrsamkeit und Geschmack, der sich mit an der Tafel befand, bekräftigte das Urteil der Marquise. Man kam nachher auf die Trauerspiele. Die Dame fragte, woher es käme, daß manche Trauerspiele in der Vorstellung etwas täten, im Lesen aber nicht auszuhalten wären?
Der Mann von Geschmack setzte es sehr gut auseinander, wie ein Stück etwas Anziehendes haben und demungeachtet doch nichts taugen könnte, bewies mit wenig Worten, daß es nicht genug sei, ein oder zwei Situationen anzubringen, die man in jedem Roman antrifft, und die immer etwas Verführerisches für die Zuschauer haben, sondern daß man originell sein müsse, ohne phantastisch zu sein, erhaben, ohne unter den Sonnen herumzuwandeln, das Herz kennen und es reden lassen, großer Dichter sein, und doch aus keiner von seinen Personen den Dichter hervorstechen lassen, den ganzen Sprachschatz zu benutzen wissen, nie den Wohlklang vergessen, nie einen Gedanken dem Reim aufopfern. Wer all' diese Regeln nicht sorgfältig in acht nimmt, setzt' er hinzu, kann zwar Trauerspiele verfertigen, die auf dem Theater gefallen, er wird aber nie einen Rang unter den guten klassischen Schriftstellern erhalten.
Gute Trauerspiele haben wir sehr wenige. Viele sind ganz wohldialogierte und wohlversifizierte Idyllen, andre ein Schlafmittel in Form eines politischen Geschwätzes oder artige Brechmittel von
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