Kann ich gleich zurueckrufen
wieder arbeiten werde – und zwar auch im Familien- und Freundeskreis. Da konnte ich dann über moderne gesellschaftliche Veränderungen reden, mich über Abhängigkeiten auslassen und Befürchtungen formulieren, ohne meinem Mann zu unterstellen, dass er mich und unser Kind bei passender Gelegenheit sitzenlassen wird. Rechtfertigungen, Erklärungen, Beteuerungen. Ich habe solche Gespräche gehasst. Vielleicht wäre eine Waffe – natürlich nur eine Wasserspritzpistole – in manchen Situationen hilfreich gewesen, denke ich und grinse.
»Kinder sind in den letzten Jahren für Frauen zu einem wichtigen politischen Accessoire geworden«, liest mein Mann vor. Das kennt man doch auch von Hollywoodschauspielerinnen, die mit Kindern, Nannys und tonnenweise Spielzeug Filmstudios in Kindergärten umwandeln. Das Kind als Statussymbol. Das Kind als Politikum. Wo bleibt das Recht des Kindes auf Kindsein? Und das Recht der Mutter auf Menschsein?
Was für ein Tag! Ein unangenehmes Gespräch mit meinem Vorgesetzten, eine Kündigung von der Putzfrau, die Szene in der Teeküche mit dem IT -Mann und der Grafikerin. Dann die Sorge um meine Mutter, die Geschichte von der verwitweten Mutter und ein Elternabend, der nicht enden wollte. Zum Glück hat mein Kleiner keinen Rückfall erlitten. Eigentlich bin ich der Meinung, es muss einen fieberfreien Tag geben, bis ich ihn wieder in den Kindergarten schicke. Bin ich doch eine Rabenmutter? Ich schüttle den Kopf und verbiete mir für den Rest des Abends alle Muttergedanken.
»Gute Nacht«, sage ich zu meinem Mann und nehme mir einen englischen Krimi aus dem Bücherregal. Ich muss mich entspannen. Das geht mit Verbrechen, die an der malerischen Küste von Cornwall geschehen und von klassisch gekleideten Briten aufgeklärt werden, am besten.
FREITAG
Der Bus ist weg. Ich bin zur Bushaltestelle gerannt und keuche. Ich war zu langsam. Der Bus ist weg. Schon 8:45 Uhr. Ich werde nicht pünktlich sein heute Morgen. Ich werde nach meinem Vorgesetzten ins Büro kommen. Und da ich in fünfzehn Minuten zum Jour fixe in sein Zimmer bestellt bin, wird er es auch bemerken.
Warum ist es kein Problem, wenn ich wegen eines Verkehrsunfalls, eines verspäteten Busses oder eines überlasteten Aufzugs zu spät komme – wegen eines Kindes, das einen Stock suchen will, aber nicht? Ich bin immer noch völlig außer Atem. Was für eine Scheiße!
Dabei hat der Tag ganz normal begonnen. Ich bin pünktlich mit meinem Sohn aus dem Haus gegangen, nach einem ganz normalen Morgen mit dem üblichen Iss-deine-Cornflakes-bitte-jetzt-Frühstück, dem Blau-ist-eine-schöne-Farbe-zieh-kein-anderes-T-shirt-an-Trödelverhindern und dem Wir-müssen-los-Mahnen. Doch als wir dann draußen waren, wollte mein kleiner Tika unbedingt einen Stock haben. Einen ganz bestimmten Stock, einen mit einer Astgabel. Und dick sollte er sein. Diesen einen Stock zu suchen, hat viel Kraft gekostet. Genauso wie meine Versuche, meinen Sohn davon abzubringen, nach dem Stock zu suchen. Ich habe mit Kinderfilmentzug gedroht, laut geschimpft und ihm eine Belohnung in Aussicht gestellt, wenn er endlich weitergeht und nicht mehr nach diesem Stock sucht.
Kurz vor dem Kindergarten habe ich aufgegeben und mitgesucht. Im Vorgarten des Kindergartens haben wir dann endlich den Stock gefunden. Um 8:40 Uhr. Ich vermute, mein Sohn wusste, dass dieser Stock da lag – vielleicht hatte ihn ein anderes Kind gestern dort hingeworfen. Stock gefunden, doch wir waren schon zu spät. Nicht zu spät für den Kindergarten – solange ich meinen Sohn vor neun abliefere, ist dort alles in Ordnung. Aber zu spät für meinen Arbeitstag.
Ich überlege. Die U-Bahn braucht elf Minuten und ist vor einer Minute abgefahren. Die U-Bahn fährt im Zehn-Minuten-Takt. Da ich sieben Minuten bis zur U-Bahn-Station brauche, würde ich die nächste wahrscheinlich auch verpassen. Der nächste Bus fährt um 8:49 Uhr. Bei normalem Verkehr komme ich um 8:56 Uhr am Bürogebäude an und könnte es gerade so bis neun nach oben schaffen. Vor neun ist der Verkehr aber selten normal, besonders freitags sind die Straßen oft bis halb elf verstopft.
Warum musste er gerade heute nach diesem Stock suchen, an einem Freitag! Freitags findet im Zimmer des Vorgesetzten um 9:00 Uhr der Jour fixe statt: Kolleginnen und Kollegen berichten aus ihren Ressorts, neue Projekte werden vorgestellt und Aufgaben verteilt. Alle Personalentscheidungen werden in diesem Termin kommuniziert. Auch wenn ich nicht an den
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