Kannst du mir verzeihen
saà sie vornübergebeugt auf dem Platz vor dem Fenster, pulte sich Hautfetzen von den Zehen und sah alle paar Sekunden hinaus.
»Was machst du hier?«, wollte er wissen, doch sie machte nur »Pscht!«, lieà von ihren Zehen ab, packte Jai am Handgelenk und zog ihn neben sich. Sie legte den Finger auf die Lippen für den Fall, dass er das »Pscht!« nicht begriffen hatte, und bedeutete ihm dann, sich so zu setzen, dass man ihn von drauÃen nicht sehen konnte. Er war nun schon so lange mit ihr befreundet und auÃerdem noch verschlafen, also tat er, wie ihm geheiÃen. Und gerade, als er sein »Was machst du hier?« endlich doch wiederholen wollte, stellte sich drauÃen die Antwort ein.
Eigentlich fand Jai die Darbietung ziemlich komisch â und gleichzeitig wusste er, dass es in dieser Situation überhaupt nichts zu lachen gab. Der entspannte, selbstbewusste, gut aussehende Bastian, der groÃartige Bastian, der den Weg zur Haustür sonst mit entwaffnendem Lächeln und strahlendem Blick entlangschlenderte, als hätte er die Sonne höchstpersönlich verschluckt, schlich zur Haustür wie ein geprügelter Hund.
Doch trotz dieses erheiternden Anblicks galt Jais Augenmerk Hanny und ihrer Reaktion auf Bastians Erscheinen. Ihre Gefühle standen ihr ins Gesicht geschrieben. Sie warf nur einen kurzen Blick auf Bastian, dann sank sie in sich zusammen und schloss die Augen, bis er wieder weg war. Mehr konnte sie offenbar nicht ertragen.
Jai nahm ihre Hand und drückte sie.
»Ist er weg?«, war das Erste, was sie an diesem Morgen zu Jai sagte.
Jai sah noch einmal hinaus, wie ein Erdmännchen, das den Kopf aus der Höhle streckt, um zu sehen, ob ein Feind lauert. Dann nickte er.
»Im Westen nichts Neues ...«
Sie rührte sich nicht.
»Und? Wollen wir mal nachsehen, was er dir heute gebracht hat?«
Sie schwieg.
»Komm schon ... Vielleicht ist es was zu essen ... Hmmm! Was Leckeres zum Frühstück! Komm schon, Hanny.« Er stand auf, ergriff ihre Hände und brachte sie dazu aufzustehen. »Du weiÃt doch, was wir zu tun haben, wenn das Leben uns eine Zitrone schenkt? Wir machen eine Zitronen-Baiser-Torte draus!«
Sie rannten um die Wette zur Tür. Das, was sich in den letzten Tagen eher wie ein SpieÃrutenlauf angefühlt hatte, wurde durch Jais Anwesenheit plötzlich zu einem Spiel. Wie gut das tat!
Und natürlich war Hanny schneller ...
Zurück in der Küche reichte sie das Päckchen an Jai weiter.
»Sicher?«
Sie nickte.
»Na gut ...«
Er lieà sich nicht zweimal bitten.
Rasch riss er das wunderschöne Papier auseinander. Dann hielt er inne und betrachtete mit gerunzelter Stirn den Inhalt des Päckchens.
»Brandy?«
Hanny nahm ihm die mit Samt ausgeschlagene Kiste ab und holte die Flasche heraus.
»Er will, dass ich meine Sorgen ertränke ...«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er genau das nicht meint ...«
»Tut er auch nicht.« Hanny drehte die ungewöhnlich geformte Flasche in der Hand und hielt sie so, dass die dunkle, goldene Flüssigkeit das Licht einfing. »Komisch. Ich könnte das hier trinken, um alles zu vergessen, aber er will genau das Gegenteil. Er will, dass ich mich erinnere.«
Neugierig sah Jai sie an.
»Und woran?«
»An die guten Zeiten.«
»Brandy erinnert dich an gute Zeiten?«
Hanny presste die Lippen aufeinander und nickte.
»Aber du trinkst doch gar keinen Brandy, Hanny.«
»Stimmt. Fast. Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich Brandy getrunken.«
»Ein einziges Mal?«
»Ein einziges Mal.« Sie schwieg einen Augenblick, dann sah sie ihren Freund an. »Und danach nie wieder «, fügte sie hinzu.
Jai war sicher, dass da gerade der Schatten eines Lächelns über ihr Gesicht gehuscht war. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte das Kinn in die Hände und sah sie tröstend an.
»Jetzt erzähl schon«, sagte er leise.
Und wartete.
Bis sie endlich redete.
Es war ihr erster gemeinsamer Urlaub gewesen.
Als alles, einfach alles, noch ganz neu gewesen war. Als sie noch nicht wusste, auf welcher Seite des Bettes er am liebsten schlief, weil sie im Bett noch kaum Schlaf gefunden hatten â jedenfalls nicht, wenn sie gemeinsam darin lagen. Als sein nackter Körper, wenn er nicht an ihren geschmiegt war, sie immer noch verlegen den Blick senken oder
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