Kannst du mir verzeihen
ohnehin schon so satt war.
Dann wurde ihr speiübel. Und trotzdem grinste sie, denn das Ganze hatte einen gewissen therapeutischen Effekt. Genau wie vor zwei Wochen, als sie auf den dämlichen Wicken herumgesprungen war. Da kam ihr ein Gedanke, und in Windeseile brach sie das Stück mit Emmas Konterfei aus dem Kuchen, raste damit nach oben, dicht gefolgt von einer bellenden Nancy, und schleuderte es mit einem maliziösen Lächeln aus demselben Fenster, aus dem sie vor so vielen Wochen den gesamten Kuchen befördert hatte.
Hanny verfolgte seine Flugbahn, wobei ihr Blick abrupt an einer Gestalt hängen blieb.
Tante Midge.
Eigentlich hatte sie erst an Weihnachten wiederkommen wollen, aber sie hatte einen Anruf von Jai erhalten. Zwar hatte er ihr nicht gesagt, weshalb er meinte, dass sie früher als geplant nach Hause kommen sollte, das wäre in seinen Augen ein Vertrauensbruch gewesen. Er hatte ihr nur gesagt, dass Hanny sie brauchte â und für Midge war das schon immer Grund genug gewesen, alles stehen und liegen zu lassen und so schnell wie möglich zu Hanny zu eilen.
Hanny dachte einen Moment, sie würde halluzinieren wie ein verdurstender Mann in der Wüste, der plötzlich eine Oase vor sich sah. Doch Tante Midge war keine Fata Morgana. Sie stand leibhaftig vor ihrem Haus.
Hannys Impuls, ihrer Tante um den Hals zu fallen, war so heftig, dass sie am liebsten auch gleich aus dem Fenster gesprungen wäre. Dann steuerte sie aber doch noch die Treppe an, stürzte sie zwei, drei, vier Stufen auf einmal nehmend herunter, riss die Haustür auf, stolperte hinaus und in Tante Midges Arme.
Tante Midge war schon immer Hannys Sicherheitsnetz gewesen, hatte sie immer schon aufgefangen, wenn Hanny strauchelte.
Und darum konnte Hanny jetzt bei ihr auch zum ersten Mal richtig weinen. Sie heulte Rotz und Wasser, schluchzte und bebte und konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
Midge hielt sie einfach nur fest, bis das emotionale Erdbeben nachlieÃ, dann brachte sie ihre Nichte in die Küche, platzierte sie auf einen Stuhl, kniete sich vor sie hin, hielt sie ganz fest bei den Händen, sah ihr tief in die Augen und sagte besorgt: »Jetzt erzähl mal, was passiert ist.«
Und zum ersten Mal leistete Hanny keinerlei Widerstand und erzählte alles.
Midge hörte aufmerksam zu, ohne Hanny ein einziges Mal zu unterbrechen.
Als Hanny fertig war, sagte ihre Tante nur:
»Ich kann das einfach nicht glauben. Du bist doch Bastians Ein und Alles.«
»Das hatte ich auch gedacht ...« Gequält zuckte Hanny die Achseln.
»Willst du noch mehr drüber reden, oder bist du für heute fertig?«
Hanny dachte nach.
»Für heute fertig, glaube ich.«
Doch dann überlegte sie es sich doch anders.
»Was meinst du, Midge? Habe ich überreagiert?«
Midge sah sie nachdenklich an, bevor sie antwortete.
»Ich könnte mir gut vorstellen, dass das so einige finden. Aber das sind dann Leute, die dich nicht gut genug kennen. Die dich und Bastian zusammen nicht gut genug kennen.«
Hanny nickte, konnte sogar leise lächeln.
Midge musterte das Schlachtfeld auf dem Tisch.
»Du hast vom Weihnachtskuchen gegessen.«
»Ich hab vom Weihnachtskuchen gegessen. Möchtest du auch ein Stück?«
»Na ja, wenn du ihn ohnehin schon angeschnitten hast.«
Hanny hieb eine Scheibe ab. Sie lieà die Klinge mit einer Wucht auf den Kuchen niedergehen, als müsse sie Knochen durchtrennen und nicht bloà Trockenfrüchte und Nüsse.
Das Kuchenstück von der GröÃe eines halben Ziegelsteins schob sie ihrer Tante zu. Die zog die Augenbrauen hoch und schwieg. Dann fing sie an zu essen.
Hanny machte die Kaffeemaschine an.
»Der ist lecker«, sagte Midge schon bald. »Sehr lecker sogar. Aber das sind Bastians Christmas Cakes ja immer. Er ist ein so begnadeter Koch ...«
Diese ÃuÃerung quittierte Hanny mit einem so bösen Blick, dass Midge vor Schreck zu kauen vergaÃ, den Bissen einfach so herunterschluckte und aufgrund einer halbwegs stecken bleibenden Mandel heftig husten musste.
»... und natürlich auch ein ganz groÃer Mistkerl«, fügte sie dann schnell hinzu, und zu ihrer Erleichterung fing Hanny an zu lachen.
»Ist schon gut, Midge ... Du musst nicht meine Partei ergreifen. Er hat einen Fehler gemacht. Wir alle machen Fehler.«
Zum ersten Mal versuchte sie, nachsichtig mit ihm zu sein,
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