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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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sieben bis acht Monate. Bis September oder Oktober, dachte Valdorian. Bis dahin muss ich Lidia gefunden haben.
    Er versuchte, diesen Gedanken abzuschütteln und sich wieder auf die Berichte zu konzentrieren, die Cordoban und Tanner für ihn zusammengestellt hatten. In ihnen war die Rede von Truppenbewegungen, Bereitstellungsräumen, der Rekrutierung weiterer Söldner, dem Transport von Waffen und Ausrüstungsmaterial mithilfe von Sprungschiffen der Horgh. Zahlen, nüchterne Zahlen. Sie bildeten eine komplexe Struktur, die sich für Personen wie Cordoban vielleicht durch eine spezielle, sonderbare Schönheit auszeichnete. Die Ästhetik von Strategie und Taktik, von perfekter Planung. Jede einzelne Zahl war wie ein Steinchen eines Mosaiks, das seine ganze Pracht nur dann zeigen konnte, wenn sich alle Einzelteile an ihrem Platz befanden. Doch es fiel Valdorian schwer, sich auf dieses »Mosaik« – auf das ganze Bild – zu konzentrieren. Er las von Planeten, die bereits erobert waren, von anderen Welten, auf denen noch gekämpft wurde, aber ihm fehlte dabei ein direkter Bezug zu den geschilderten Ereignissen.
    Schließlich schob Valdorian die Berichte beiseite und blickte aus dem Fenster, ohne Tuthulas Eispanzer oder den Gasriesen Prominent wahrzunehmen. Noch etwas mehr als ein halbes Jahr … Er spürte Veränderungen in sich, im Denken ebenso wie im Fühlen. Handelte es sich dabei um Auswirkungen der zunehmenden genetischen Destabilisierung? Verlor er allmählich den Bezug zur Realität, wie Connor angekündigt hatte? Oder gingen die neuen Gedanken und neuen Gefühle auf eine Verschiebung der Perspektive zurück, darauf, dass er innerlich einen Schritt zur Seite getreten war, um sich selbst zu sehen und nach dem Sinn eines hundertsiebenundvierzig Jahre langen Lebens zu fragen? Konnte jemand, der an geistiger Verwirrung litt, den eigenen Zustand diagnostizieren? Er fühlte den Beginn weiterer Veränderungen, die in den Tiefen des Unterbewusstseins wuchsen und sich dem wachen Ich erst dann präsentierten, wenn sie Gestalt und Reife gewonnen hatten. Es wurde immer deutlicher für ihn, dass er damals, vor hundertzwanzig Jahren, die falsche Entscheidung getroffen und dadurch einen Lebensweg beschriften hatte, der in die falsche Richtung führte. Ein Teil von ihm sträubte sich noch gegen diese Erkenntnis, aber ein anderer akzeptierte sie, so bitter sie auch sein mochte. Lidia hatte ihm angeboten, ihr Begleiter zu werden, ihr Konfident. Er wäre in der Lage gewesen, mit ihr zusammen durchs All zu reisen, Jahrhunderte- oder gar jahrtausendelang. Aber dann hätte er auf alles andere verzichten müssen, auf Reichtum und Macht.
    Es ist die Nähe des Todes, dachte Valdorian, als er nach draußen blickte und dabei seine Innenwelt erforschte. Der Tod relativierte alles. Er bedeutete das unwiderrufliche Ende der Existenz, wie der Obelisk im Mausoleum von Tintiran verdeutlichte. Das Begrenzte Sein. Valdorians achtzehn Vorgänger hatten ein ähnliches Leben geführt wie er selbst, doch im Augenblick des Todes, dem niemand entrinnen konnte, mussten sie auf all die Dinge verzichten, die sie zum Inhalt der eigenen Existenz gemacht hatten. Niemand von ihnen war imstande, Macht und Reichtum ins Jenseits mitzunehmen. Durch jene dunkle Tür schritt man nackt, ohne irgendetwas bei sich zu tragen. Wenn man die Dinge aus dieser Perspektive sah – welchen Sinn hatten Macht und Reichtum dann? Welchen Sinn hatte irgendetwas, wenn alles vergänglich war?
    Valdorian wandte sich vom Fenster ab und begann mit einer unruhigen Wanderung durch Tanners Büro, wie auf der Flucht vor den eigenen Gedanken. Er ahnte, dass er auch deshalb mit der Suche nach Lidia begonnen hatte: um Antworten auf seine Fragen zu finden. Sie war nicht nur seine einzige Hoffnung, dem drohenden Ende zu entkommen und den Tod zu überlisten, der ihn in wenigen Monaten in Empfang nehmen wollte. Sie wurde immer mehr zu einem ganz persönlichen Orakel für ihn. Die Suche nach ihr lief auf das Bestreben hinaus, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, und ein derartiger Versuch, so mahnte eine rationale Stimme in ihm, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Trotzdem hielt er daran fest, angetrieben von irrationaler Hoffnung und, vor allem, von Furcht vor dem Tod, vor dem Nichts, das ihm alles zu nehmen drohte.
    Der Kommunikationsservo auf dem Schreibtisch summte, holte Valdorian ins Hier und Heute zurück.
    »Ja?«, fragte er.
    »Er ist da«, ertönte Jonathans Stimme aus

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