Kantaki 01 - Diamant
Bibliothek …«, hauchte sie. »Sie enthält alle Bücher, die geschrieben worden sind und geschrieben worden sein könnten, nicht wahr?«
»Du bist klug«, sagte der Schatten anerkennend. »Hier habe ich ein Buch, das dich noch mehr interessieren dürfte.« Die dunkle Gestalt legte es auf einen Stuhl, der aus dem Nichts erschien, und wich zurück.
Lidia trat neugierig näher. Als sie den Titel des Buches und den Namen des Autors las, vergaß sie Hofener. Es war ein Roman. Der Titel lautete »Die Türme des Irgendwo«, und geschrieben hatte das Buch Roald DiKastro.
Lidia legte Hofeners Werk beiseite, griff nach dem Buch ihres Vaters, schlug es auf und blätterte. »Für Lidia«, las sie, und auf der nächsten Seite begann der Text des fast vierhundert Seiten langen Romans.
»Ja, er hat ihn geschrieben«, sagte der Schatten. »Irgendwo in der nichtlinearen Zeit. Hier gibt es viele solche Bücher.« Und er vollführte eine Geste, die der ganzen Bibliothek galt.
»Er hat ihn geschrieben«, wiederholte Lidia leise. Sie dachte an Xandor, an das Haus in den Bergen, unweit des Sees, und an das Bootshaus direkt an seinem Ufer, in dem ihr Vater so oft gesessen hatte, allein und seiner Kreativität beraubt. Sie stellte sich vor, wie er dort voller Eifer arbeitete und einem kleinen Datenservo seinen Text diktierte. Sie schloss die Augen, und daraufhin wurden die Erinnerungsbilder deutlicher, zeigten ihr den See im Sommer, blau, zum Baden einladend, und im Winter, verborgen unter Eis und Schnee.
Als sie die Augen wieder öffnete, war die Bibliothek verschwunden. Sie befand sich in einem großen, mit alten Möbeln aus massivem Holz eingerichteten Wohnzimmer. Geräte fehlten. Zwei große Sessel standen vor einem Kamin, in dem ein wärmendes Feuer brannte, zwischen ihnen ein kleiner Tisch mit einer dampfenden Tasse Tintiran-Kaffee und Roald DiKastros Buch, das Lidia nicht mehr in den Händen hielt.
»Mach es dir bequem«, sagte der Schatten. Er stand direkt vor dem Feuer im Kamin, aber der Schein der Flammen durchdrang ihn nicht. Mit einer einladende Geste deutete sie auf einen der Sessel. »Lies das Buch deines Vaters. Es interessiert dich doch, oder? Und hier hast du Zeit genug.« Den geflüsterten Worten folgte ein ebenso leises Lachen.
Lidia trat einen Schritt vor …
… und saß im Sessel, das aufgeschlagene Buch auf dem Schoß und die Tasse Kaffee in der Hand. Ein verlockender Duft berührte ihre Nase, und sie trank einen Schluck, setzte die Tasse dann ab. »Wer sind Sie?«, fragte sie den Schatten.
»Lies das Buch«, sagte die dunkle Gestalt und ging zur Tür. »Dein Vater hat es für dich geschrieben. ›Für Lidia‹.«
Der Schatten trat durch die Tür, die hinter ihr verschwand. Lidia sah sich um. Es gab keine andere Tür in dem großen Wohnzimmer, auch keine Fenster.
Trotzdem blieb sie ruhig und gelassen. Ohne einen Faden konnte sie nicht zu einem anderen Planeten gelangen. Sie befand sich noch immer auf Floyds Welt, in der bunten Stadt, nicht weit vom Schiff entfernt, in einem Kosmos der nichtlinearen Zeit. Wenn sie in eine kritische Situation geriet, wenn Gefahr drohte, konnte sie ihre Gabe benutzen und Mutter Krir verständigen. Der Kantaki standen ganz andere Ressourcen zur Verfügung als ihr, und sie konnte auf ihre Hilfe zählen.
Sie lehnte sich zurück, hob das Buch und begann zu lesen.
Lidia erwachte, als längst kein Feuer mehr brannte und der Kamin nur noch kalte Asche enthielt. Das Buch war ihr auf den Schoß gesunken, und sie erinnerte sich daran, es bis zur letzten Seite gelesen und dann eine Zeit lang nachdenklich ins Leere gestarrt zu haben. Es war ein guter Roman, geschrieben mit der vitalen Kreativität, die auch die früheren Werke ihres Vaters auszeichnete. Irgendwo, in irgendeinem Universum, gab es einen Roald DiKastro, der sich seinen schriftstellerischen Esprit bewahrt hatte und interessante Geschichten erzählte. Dieser Gedanke spendete Lidia Trost und nahm den Erinnerungen an das Grab beim See einen Teil der Trauer.
Sie stand auf und streckte sich. Wie lange hatte sie geschlafen? Lidia trug keinen Chrono-Servo, und im Schlaf verstrichene Zeit zu schätzen … Vielleicht einige Stunden.
Sie fühlte sich ausgeruht nach den Strapazen des Transfers in die nichtlineare Zeit und Floyds Bestattung.
Und sie hatte Fragen, die Antworten verlangten.
Langsam ging Lidia durch das große Wohnzimmer mit den alten, stilvollen Möbeln, stellte dabei fest, dass die Wände noch immer keine
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