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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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sich bereits vom energetischen Kollaps und wartete darauf, erneut ins All gebracht zu werden, in den Transraum und zurück in die lineare Zeit.
    Einmal mehr dachte Lidia an die greise Joan und versuchte, ruhig zu bleiben, nicht der Panik nachzugeben, die irgendwo in ihr zu wachsen begann. Und es ist alles meine Schuld, dachte sie. Weil ich nicht rechtzeitig erwacht bin. Floyd hat mich um Hilfe gerufen, aber ich habe geschlafen.
    Sie sah zur Stadt hinter dem Kantaki-Schiff und versuchte, sich dadurch von bedrohlichen Gedanken abzulenken. Eine Stadt … Oder ein gewaltiges Gebäude aus miteinander verkeilten Segmenten, gewissermaßen die urbane Version eines Kantaki-Kolosses. Safrangelb, altrosa und lavendelblau erstreckte sie sich in einem schmalen Tal, das den Wind kanalisierte, ihn noch heftiger werden ließ, zu einem Sturm. Lidia fragte sich, wer ausgerechnet dort eine Stadt errichtet hatte, geduckt unter den Böen, den Stimmen der Wüste. Und mitten in dieser Stadt, oder im Zentrum des Gebäudekomplexes, ragte eine Festung auf, eine Bastion so dunkel wie das Kantaki-Schiff.
    Doch nichts regte sich dort, weder bei der Festung noch in der Stadt. Die schmalen Straßen waren leer; nirgends zeigten sich Fußgänger oder Fahrzeuge.
    Lidia erinnerte sich an die relative Natur dieser irrealen Realität. Was sich ihren Augen darbot, musste nicht unbedingt tatsächlich existieren.
    »Dies ist ein Universum der Möglichkeiten«, sagte sie, und sofort wurde das Pfeifen des Winds lauter, als wollte er keine andere Stimme neben sich dulden. »Trotzdem: Der Wunsch allein genügt nicht, um einen Faden zu finden.«
    Sie ging weiter, erreichte kurz darauf den Rand der Stadt und das Ende des Schattens, der vom Kantaki-Schiff ausging. Die Sonne brannte heiß, und Lidia zog sich die Kapuze über den Kopf, um vor der Hitze und auch dem Wind geschützt zu sein.
    Aber die Hitze kroch durch den Stoff des Umhangs, und der böige Wind wurde immer unangenehmer – sie musste sich ihm entgegenstemmen, als sie durch die schmalen Straßen der Stadt stapfte. Rechts und links neben ihr wuchsen skurrile Gebäude empor, wie steinerne Lebewesen, erstarrt in dem Versuch, sich zu umarmen. Oder sich gegenseitig zu verschlingen, dachte Lidia und schauderte innerlich. Dieser Gedanke wurzelte in einem Empfinden, das immer deutlicher wurde. Das grelle Licht der heißen Sonne lag über der Stadt, trotzdem fühlte sie sich wie in Düsternis gehüllt an. Ihre Farben schienen einen Grauschleier zu tragen.
    Das Heulen des Winds und die von ihm ausgeübte Kraft wurden schier unerträglich, und als Lidia einen offenen Zugang sah, nutzte sie die Chance, den Böen und dem Gleißen der Sonne zu entkommen. Sie trat durch den Eingang; sofort wurde die Stimme des Winds leiser, zu einem wie enttäuscht klingenden Flüstern, und die Hitze wich angenehmer Kühle. Lidia ging einige Schritte weiter und blieb dann stehen, um die Kapuze abzustreifen und ihren Augen Gelegenheit zu geben, sich ans Halbdunkel zu gewöhnen.
    Stark gefiltertes Sonnenlicht fiel durch getönte Fenster in vielen verschiedenen Formen. Die Konturen von Einrichtungsgegenständen ragten aus der farblosen Düsternis, manche vertraut – Tische und Stühle –, andere völlig fremdartig und nicht zu identifizieren. Lidia ging weiter und versuchte, einen Eindruck von diesem Ort und den Personen zu gewinnen, die hier gelebt hatten. Und vielleicht noch hier leben, fügte sie in Gedanken hinzu.
    Vor ihr bewegte sich etwas.
    Lidia blieb abrupt stehen und blickte durch einen etwa zehn Meter langen Korridor, an dessen Ende eine Pendeltür leicht hin und her schwang. Furchte regte sich in ihr, und sie dachte erneut an den Abissalen, an die Dunkelheit, die sie im Plurial … nicht gesehen, sondern gefühlt hatte. Wer war der Abissale? Und der uralte Konflikt, von dem die ferne Stimme geflüstert hatte …
    Was hat Joan gesehen?
    »Ist hier jemand?«, fragte sie und bedauerte, keinen Linguator mitgenommen zu haben. Aber sie hatte das Kantaki-Schiff nur verlassen, um Floyd zu begraben; ein Besuch der Stadt war zunächst nicht beabsichtigt gewesen.
    Niemand antwortete ihr, doch sie hörte ein wortloses Flüstern, so als stünde jemand direkt hinter ihr. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah nicht etwa das Zimmer mit den vertrauten und fremdartigen Einrichtungsgegenständen, sondern eine graue Wand, bestehend aus einer Substanz so glatt wie polierte Stahlkeramik und so kalt wie Eis. Kälte … trotz der

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