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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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blieb nicht stehen, ging weiter, streckte die Hand aus …
    Der Schatten stob davon, verschwand durch den Torbogen und verschmolz mit der dortigen Dunkelheit.
    »Gib zu, dass du mich gesucht hast«, raunte es aus der Finsternis.
    Lidia wusste nicht, was ihr seltsamer erschien: der Schatten selbst oder der Umstand, dass sie seine Worte verstand. Sie folgte ihm durch den Torbogen, und sofort veränderte sich die Struktur der Umgebung. Direkt vor ihr entstand ein Raum, ein zweiter Saal, noch größer als der, den sie gerade verlassen hatte. Sie befand sich auf einer hohen Empore und blickte in eine der größten Bibliotheken, die sie je gesehen hatte, angeordnet in konzentrischen Kreisen, mit einer kleinen Grünanlage in der Mitte. Den Durchmesser dieser Bibliothek schätzte sie auf mindestens einen Kilometer, und sie fragte sich, wo ein solches Gebäude in dem schmalen Tal am Rande des Plateaus Platz finden konnte. Aber vielleicht verhielt es sich mit den Gebäuden so wie mit den Bauwerken und Schiffen der Kantaki, die im Inneren größer waren, als es ihre äußeren Maße eigentlich zuließen.
    »Du magst doch Bücher, nicht wahr, Lidia?«, fragte der Schatten und bereitete ihr damit eine weitere Überraschung. Es war Jahre her, seit sie zum letzten Mal ihren alten Namen gehört hatte. Und woher kannte der Schatten ihn?
    Sie stellte die Frage. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
    »Oh, ich weiß viel über dich.« Der Schatten stand unten, in einem der Bibliotheksringe, fast fünfzig Meter entfernt, aber Lidia hatte den Eindruck, als stünde er direkt neben ihr. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Ich weiß zum Beispiel, dass du dich für die Xurr interessierst. Möchtest du wissen, warum sie vor hunderttausend Jahren deiner Zeit aus dem galaktischen Kern kamen?«
    Meiner Zeit, dachte sie, und ihre Beine bewegten sich von ganz allein, trugen sie eine breite Treppe hinab und zu jenem Ring, in dem der Schatten stand. Als sie sich ihm näherte, wich er fort, ohne sich zu bewegen – er schrumpfte in Richtung Hintergrund.
    »Dort, das Buch auf dem Schemel, sieh es dir an«, raunte er.
    Lidia ging an den Regalen entlang und glaubte dabei, noch andere flüsternde Stimmen zu hören. Es klang wie das Knistern von trockenem Laub, über das ein sanfter Herbstwind hinwegstrich: Jedes einzelne Buch, an dem sie vorbeikam, die Datenmodule, pseudorealen Tafeln und anderen Informationsträger – sie alle flüsterten mit einer eigenen Stimme, erzählten leise ihre Geschichten.
    Lidia blieb am Schemel stehen und nahm das Buch, das aus einem papierartigen Material bestand und dadurch vertraut genug wirkte. ›»Der Exodus der Xurr‹«, las sie. ›»Von Kulmar Hofener‹.« In ihrem Universum hatte Hofener nie ein solches Buch geschrieben. Der Text zwischen diesen beiden Buchdeckeln stammte von einem Hofener aus einem anderen Kosmos.
    Der Schatten stand einige Meter entfernt und schien Lidia anzusehen, obgleich sich keine Augen erkennen ließen.
    Sie schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf und begann zu lesen.
    »Inzwischen müssen wir davon ausgehen, dass die Xurr ihre Heimat, das galaktische Zentrum, nicht freiwillig verließen«, las sie fasziniert. »Sie flohen vor einer Gefahr, die sie ›Toukwan‹ nannten, was übersetzt so viel wie ›die Fehlgeleiteten‹ bedeutet.«
    Lidia sah ungläubig auf. »Soll das heißen … In einem Universum, in einer parallelen Welt … ist es Hofener gelungen, die Xurr-Hieroglyphen zu enträtseln?«
    »Was ist so erstaunlich daran?«, erwiderte der Schatten mit seiner Flüsterstimme. »In einem unendlichen Universum mit unendlich vielen Paralleluniversen ist alles möglich. Irgendwo geschieht, was geschehen kann. Dieser Hofener fand ein Äquivalent des Steins von Rosette, und damit konnte er die Xurr-Zeichen übersetzen.«
    Lidia hatte plötzlich das Gefühl, einen überaus kostbaren Schatz in den Händen zu halten. Sie starrte auf das Buch hinab, sah die Schrift, ohne zu lesen, hob dann wieder den Kopf und ließ den Blick über die Regale gleiten. Sie hatte beobachtet, wie der Raum gewachsen war, innerhalb eines Sekundenbruchteils, wie er sich schlagartig vor ihr erweitert hatte und nun weitaus mehr Platz einnahm, als die Stadt in dem schmalen Tal am Rand des Plateaus bieten konnte. Er war wie ein Universum im Inneren eines Universums, dazu imstande, sich endlos auszudehnen. Und das bedeutete …
    Ihr Staunen wuchs, und ein Teil davon verwandelte sich in Ehrfurcht.
    »Diese

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