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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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lebten und leben würden, auf irgendeiner Ebene ihres Seins miteinander in Verbindung standen, so wie alle Himmelskörper des ihr vertrauten Universums durch die Fäden des Transraums miteinander verbunden waren. Wenn das stimmt, so nimmt jede Lidia am Leben jeder anderen Lidia teil. Diese Vorstellung spendete ihr seltsamen Trost, und mit neuer Ruhe beobachtete sie die beiden Kinder, die sie geboren hatte. Wie in der Vision auf Floyds Welt sah sie sich selbst in den kindlichen Gesichtern wieder, und sie erkannte auch Valdorians Züge. Wir sind beide vereint, in einem Jungen und einem Mädchen, ein Paar in einem Paar. Wieder sah sie zur anderen Lidia und erinnerte sich an die letzten Worte ihrer Mutter beim Abschied auf Xandor: Sei glücklich. »Sei glücklich«, sagte sie zu ihrem alternativen Selbst und gab dann dem Zerren des Strudels nach.
    Dutzende von Bildern wehten ihr entgegen, sowohl dem beobachtenden als auch dem teilhabenden Selbst, Bilder, die ihr verschiedene Szenen aus dem Leben von Leonard und Francy zeigten. Die Kinder wuchsen heran, wurden zu Jugendlichen, die während der Pubertät den ersten großen perspektivischen Wechsel ihres Lebens erfuhren. Geburtstage und andere Feste brachten Freude in eine Familie, in der es keine Schatten zu geben schien. Es kam zu ersten Kontakten mit dem anderen Geschlecht, zu Freude über das Glück in anderen Augen und zu Kummer durch Enttäuschungen, kleine Stolpersteine auf dem Weg des Lebens, die Reife brachten.
    Lidia betrachtete die Bilder und nahm alle ihre Einzelheiten wahr, obwohl sie immer schneller durch den Strudel fiel –
    In jedem Leben gab es solche Szenen; sie stellten nichts Besonderes dar und unterschieden sich nur in den Details.
    Aber für Lidia waren sie einzigartig, denn sie sah das Leben ihrer Kinder. Fasziniert beobachtete sie, wie sie selbst Partner wählten und ihrerseits Kinder bekamen. Eine ältere Lidia und ein älterer Valdorian spielten mit ihren Enkeln, so wie sie vor dreißig und mehr Jahren mit ihren eigenen Kindern gespielt hatten.
    Aus den einzelnen Bildern wurden flackernde Blitze, und doch blieb Lidia imstande, jedes einzelne von ihnen zu betrachten. Weitere Möglichkeiten präsentierten sich ihr, und diesmal betrafen sie nicht einen möglichen Lebensweg, sondern eine Vielzahl von ihnen. Leonard und Francy fielen einem Unfall zum Opfer. Sie erkrankten und siechten über Jahre dahin. Sie lebten und zerstritten sich, ebenso wie ihre Eltern, die sich gegenseitig die Schuld am Zwist ihrer Kinder gaben. Sie kehrten der Wirklichkeit den Rücken und wurden Teil einer Anderswelt. Leonard verschmolz mit einem Mikronauten-Kollektiv, während sich Francy den Wunsch ihrer Mutter erfüllte und Kantaki-Pilotin wurde. Myriaden von Möglichkeiten umgaben Lidia, wie ein Lichterreigen, wie die Sterne am Nachthimmel eines Planeten irgendwo im galaktischen Kern, und jede einzelne von ihnen gehörte zu einer übergeordneten Metarealität. Jede einzelne von ihnen hatte die gleiche Daseinsberechtigung und war nicht mehr oder minder wirklich, im Vergleich mit den anderen. Lidias Kinder existierten dort draußen und lebten ihr Leben, auf die eine oder andere Weise.
    Schließlich glitt ein Bild in den Vordergrund, schob alle anderen beiseite und dehnte sich, bis es Lidias ganze Wahrnehmung ausfüllte. Sie sah sich selbst, auf der Terrasse einer Villa, von der aus man auf eine Stadt blicken konnte, die ihr vertraut erschien. Jenseits davon rollten die Wellen eines scharlachroten Ozeans an den Strand.
    »Tintiran«, sagte Lidia vor der Pluriallinse und auf der Terrasse, neben der anderen Lidia, die sie weder sah noch hörte. »Bellavista.«
    Und doch war Bellavista irgendwie anders und nicht genau die Stadt, an die sie sich erinnerte.
    Die andere Lidia war etwa sechzig Jahre alt, und graue Strähnen zeigten sich in ihrem schwarzen Haar. Die Schultern unter dem seidenen Kleid, grün und blau wie ihre Augen, neigten sich nach unten. Die dünnen Falten im Gesicht zeugten nicht nur von verlorener Jugend, sondern auch von Trauer. Die Lidia vor der Pluriallinse fragte sich, warum ihr alternatives Selbst offenbar auf eine Resurrektion verzichtet hatte. Trug es die Zeichen des Alters gewissermaßen als Symbol für den Zustand von Herz und Seele?
    »Musst du wieder fort?«, fragte die ältere Lidia, als hinter ihr ein älterer Valdorian aus dem Haus kam und zu dem in der Nähe geparkten Levitatorwagen ging.
    »Ein wichtiger Termin wartet auf mich«, sagte er. »Ich

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