Kantaki 01 - Diamant
Umgebung, wie in der Pagode in Bellavista. Sie blieb in der Grotte, aber ihr Bewusstsein wuchs, schwoll an wie ein Ballon, in den man Gas pumpte. Ein Teil ihres Selbst sprang ins Fünfeck der Pluriallinse, verließ wie von einem Katapult geschleudert die fesselnden Strukturen dieses Kontinuums und jagte durchs Plurial. Die zweite Hälfte ihres Ichs blieb zurück, berührte weiterhin einen der fünf Steine und blickte zur Linse auf, in der sich Bilder formten. Sie folgten so schnell aufeinander, dass sich keine Einzelheiten erkennen ließen, denn das ausgeschickte Selbstfragment suchte noch in den vielen möglichen Welten nach einer, in der Lidia DiKastro nicht Kantaki-Pilotin geworden war. Sie verharrte im Hier und fiel doch in ein mannigfaltiges Dort, in einen Strudel von Möglichkeiten, die aus vielen Kosmen des Plurials stammten. Erste Bilder entstanden im Nichts zwischen den fünf Ecken der Pluriallinse …
Lidia stand vor dem Sarkophag, der die sterblichen Überreste der fünf Urmütter der Kantaki enthielt, und gleichzeitig ging sie mit langen Schritten zwischen den Riesen eines alten Waldes, blickte an den Stämmen von Bäumen empor, die mehr als hundert Meter weit dem Himmel entgegen ragten. Den Namen dieses Ortes kannte sie nicht, aber er spielte auch keine Rolle. Viel wichtiger war, dass sie Leonard und Francy in der Nähe wusste.
Sie fand sie kurze Zeit später. Die Abstände zwischen den Baumriesen wurden größer, und der Pfad führte Lidia zu einem See mit kristallklarem Wasser, auf der einen Seite gespeist von einem Wasserfall, dessen Fluten aus einer Höhe von etwa zwanzig Metern über ockergelbe Felsen spritzten. Zwei Kinder planschten in der Nähe des Ufers, unter der diskreten Obhut einer auf Levitationskissen schwebenden Aufsichtsdrohne. Auf einer Decke am Ufer saßen zwei junge Erwachsene, eine Frau und ein Mann, die Schultern aneinander gelehnt, die Arme umeinander geschlungen. Etwas weiter entfernt, in einem freien Bereich zwischen Sträuchern und Büschen, stand ein Levitatorwagen.
Lidia ging weiter und hörte, wie kleine Steine unter ihren Schritten knirschten, während sie sich dem See näherte. Sie war zugegen, in jeder Hinsicht, physisch und psychisch – sie war ein Teil dieser Realität. Aber zur gleichen Zeit befand sie sich außerhalb davon, in der kleinen Grotte einer subplanetaren Höhlenstadt auf Munghar, unter einer vermutlich Jahrmilliarden Jahre alten Linse, die den frühen Kantaki einen Blick ins Plurial gestattet hatte.
Es war ein wunderschöner Ort, friedlich, voller Harmonie. Lidia erinnerte sich vage daran, dass Valdorian einmal einen solchen See erwähnt hatte, eine kleine Idylle auf einer der größeren Inseln des Scharlachroten Meers, im Besitz der Familie Valdorian. Befand sie sich auf Tintiran, auf dem Planeten Tintiran eines parallelen Universums, in dem ihr Lebensweg in eine andere Richtung geführt hatte?
Sie trat so nahe an das Paar heran, dass ihr Schatten auf die Gesichter der beiden Erwachsenen fiel, die davon aber überhaupt nichts bemerkten. Sie wechselten einen liebevollen Blick, sahen dann zu den planschenden Kindern. Lidia erkannte sich selbst im Alter von etwa fünfunddreißig Jahren: Ihr alternatives Selbst trug das schwarze, lockige Haar etwas kürzer, und die Wangen schienen ein wenig voller zu sein, aber der Glanz in den grünblauen Augen hatte sich nicht verändert. Und doch gab es etwas Neues in dem Gesicht, etwas, das die Züge noch weicher und sanfter werden ließ: Glück; tiefe, ruhige Zufriedenheit.
Der Strudel der Möglichkeiten im Inneren der Pluriallinse zerrte an ihr, aber Lidia verharrte, blieb in dieser alternativen Welt. Sie wollte mehr sehen. Valdorian saß neben der anderen Lidia, doch es war nicht der Valdorian, den sie kannte. Im Gesicht dieses Valdorian gab es keinen arroganten Hochmut mehr; er hatte dazugelernt, war gereift.
»Bist du der Valdorian, der mir damals einen Ehekontrakt vorgeschlagen hat?«, fragt sie laut, ohne dass ihre Stimme in dieser Welt erklang. Hätte dies unser Weg sein können?, fügte sie in Gedanken hinzu. Ist dies tatsächlich eine der Möglichkeiten, die irgendwo im Plurial Wirklichkeit geworden sind? Oder sehe ich eine idealisierte Pseudorealität, von den Wünschen meines Unterbewusstseins geschaffene Bilder?
Sie wandte sich den Kindern zu, Leonard und Francy, sechs und drei Jahre alt … Woher weiß ich das?, dachte Lidia verblüfft. Und sie fragte sich, ob alle Lidias, die jemals gelebt hatten,
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