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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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In ihrem Inneren bot die Grotte mehr Platz, als das Volumen eigentlich zulassen sollte. Mit jedem Schritt von Mutter Krir dehnte sich der Raum zwischen den Wänden, während das Fünfeck zwischen den steinernen Stegen – den »Armen« der Grotte – immer mehr anschwoll. Lidia dreht kurz den Kopf. Der Eingang schien kilometerweit entfernt zu sein, und von dem Kustos war nichts mehr zu sehen.
    Als Mutter Krir stehen blieb, kletterte Lidia von ihr herunter. Unter dem Fünfeck bemerkte sie etwas, das sie zunächst für einen steinernen Sockel hielt, nicht dunkel, sondern silbergrau, doch als sie näher kam, präsentierte das Objekt immer mehr Ähnlichkeit mit einem Sarkophag. Dieser Eindruck täuschte nicht, wie Mutter Krir kurz darauf bestätigte.
    »Mror ist sehr eifersüchtig, wenn es um diesen Ort geht«, erklärte sie das Verhalten des Kustos. »Es widerstrebt ihm sogar, anderen Kantaki Zutritt zu gewähren. Dies ist der heiligste Ort unseres Volkes, Diamant, die Wurzel unserer Kultur. In diesem steinernen Schrein ruhen die fünf Urmütter, auf die alle Ahnenreihen zurückgehen. In ihnen verwandelte sich der Materie gewordene Geist in Intellekt.«
    Auf dem Sarkophag sah Lidia die Nachbildungen von Kantaki, aus dem gleichen silbergrauen Material bestehend und umgeben von jeweils fünf konzentrischen Symbolkreisen. Die Statuen standen auf den hinteren Gliedmaßen, und in den vorderen, nach oben gereckten Greifzangen ruhten fünf unterschiedlich große Steine.
    »Dies sind die Steine mit den Heiligen Worten der Kantaki. Jeder Stein trägt einhundertelf, und insgesamt sind es fünfhundertfünfundfünfzig, dreimal die eins und dreimal die fünf«, flüsterte Lidia und wiederholte Worte, die sie vor fünfeinhalb Jahren gehört hatte, von Hrrlgrid.
    »So lehren es die Akuhaschi die angehenden Piloten«, klickte Mutter Krir. »Dies sind keine Nachbildungen, sondern die echten Steine, die Originale. Sie werden dir helfen, dein anderes Leben zu finden, Diamant. Sie zeigen dir, was gewesen sein könnte. Wähle einen, berühre ihn und öffne die Fenster und Türen deiner Gabe. Dann wirst du sehen, so wie in der Pagode.«
    Lidia sah zum dreieckigen Kopf der Kantaki auf. Sie versteht mich besser, als ich mich selbst, dachte sie. Was hat sie gesehen, als sie damals den Kern meines Selbst berührte? Und was sieht sie jetzt in mir?
    »Wie haben Sie den Kustos umgestimmt?«, fragte sie. »Ich habe Ihre Worte nicht verstanden.«
    Mutter Krir klickte, und es klang nach einem amüsierten Lachen. »Es gibt keinen Linguator, der sie in deine Sprache übertragen könnte. Meine Bemerkung war ebenso unübersetzbar wie die Heiligen Worte der fünf Steine – sie hat nur für Kantaki Sinn und Bedeutung.« Sie wandte sich halb ab, zögerte dann und blickte erneut zu Lidia. »Es ist ein komplexes Konzept, das persönliche Beziehungen mit Ereignissen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Verbindung setzt. Ich habe Mror darauf hingewiesen, dass du mehr für mich bist als ›nur‹ die Pilotin meines Schiffes. Du bist wie eine Tochter, wie ein Geschwister meiner Kinder, und eine Konfidentin in der letzten Phase meines Lebens – du wirst meinen Tod sehen.«
    »Mutter Krir …«
    Das amüsierte Klicken wiederholte sich. »Miss den Bedeutungsinhalt meiner Worte nicht mit den Maßstäben deiner Kultur«, mahnte die Kantaki. »Das Ergebnis wäre falsch. Ich war und ich bin«, intonierte sie. »Und irgendwann werde ich gewesen sein. Das ist der Lauf aller Dinge; auf diese Weise mehren wir die Weisheit des Geistes, der alles durchdringt.« Mutter Krir streckte eine vordere Gliedmaße aus und berührte Lidia an der Wange. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür, die sie mit einigen wenigen Schritten erreichte, obwohl sie so weit entfernt zu sein schien.
    Lidia sah ihr nach, blickte dann zum Fünfeck über ihr, dessen Inhalt nicht Teil der Grotte war. Sie fragte sich, ob eine permanente Verbindung zum Transraum bestand, und eine Sekunde später begriff sie, wie sinnlos es war, nach Erklärungen zu suchen und etwas, das weit über die Grenzen ihrer Wahrnehmung hinausging, allein mit den Werkzeugen zu begreifen, die ihr Rationalität und Verstand zur Verfügung stellten. Sie wandte sich den fünf Statuen zu, streckte die Hand aus und berührte den nächsten Stein. Gleichzeitig besann sie sich auf die Gabe und beherzigte Mutter Krirs Rat, öffnete die Türen und Fenster ihres Geistes.
    Diesmal kam es nicht zu einer subjektiven Veränderung der

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