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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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zweifellos das Fehlen eines Partners. Seit fast achtzig Jahren flog sie für die Kantaki durch den Transraum, erst für Mutter Krir und dann für ihren Sohn Grar, ohne einen Konfidenten. Seit acht Jahrzehnten war sie praktisch allein – abgesehen von einigen kurzen Beziehungen, die keine nennenswerten Spuren in ihr hinterlassen hatten. Einmal mehr erinnerte sie sich an Floyds kluge Worte: Ein langes Leben trägt die Bürde des Todes. Viele jener Personen, die ihr früher etwas bedeutet hatten, waren inzwischen tot, und dadurch wuchs ihre Distanz zur Welt im Zeitstrom. Sie hatte es versäumt, einen Ausgleich zu schaffen, neue Kontakte zu knüpfen, neue Freundschaften zu schließen, und dadurch war sie immer einsamer geworden. Noch viele, viele Jahre lagen vor ihr, und sie wollte sie nicht auf diese Weise verbringen, in Zwietracht mit sich selbst.
    Lidia hörte entfernte Stimmen, noch so leise, dass sie die gesprochenen Worte nicht verstand. Sie zögerte, innerlich hin und her gerissen: Ein Teil von ihr wollte anderen Personen begegnen – Schülern oder Piloten – und mit ihnen reden, doch ein anderer hätte sich lieber zurückgezogen, um allein und ungestört über alles nachzudenken, vielleicht eine Entscheidung zu treffen. Schließlich gab sie sich einen Ruck und ging weiter, in die Richtung, aus der die Stimmen kamen.
    Kurz darauf erreichte sie einen großen Aufenthaltsraum, von semitransparenten Zwischenwänden und Blumenarrangements in einzelne Sektionen unterteilt. Indirekte Beleuchtung ließ diffuse Schatten entstehen. In der Mitte des Raums plätscherte Wasser wie Quecksilber in einer glitzernden, ewigen Kaskade, umgeben von dünnen Kristallsäulen, die ständig ihre Farben wechselten. Zwanzig oder mehr Personen hatten sich an diesem Ort eingefunden, die meisten von ihnen Piloten, aber auch einige Schüler, die aufgeregt den Schilderungen erfahrener Navigatoren lauschten. Lidias Blick glitt über sie hinweg zu den gewölbten Wänden, an denen pseudoreale Fenster Ausblick gewährten auf verschiedene Regionen des Planeten; ein Darstellungsbereich war in vierzehn Segmente unterteilt und zeigte Aronnàhs Riesenvulkane. Andere Projektionsfelder präsentierten die Wälder und smaragdgrünen Meere des Planeten. Es waren angenehme, Ruhe schenkende Bilder, und Lidia nahm direkt vor einem Pseudofenster Platz, das mehrere kleine Baumsiedlungen der Waldbewohner zeigte. Sie wirkten erstaunlich stabil, wenn man bedachte, dass sie allein aus den Materialien errichtet worden waren, die der Wald zur Verfügung stellte. Bei Form und Struktur hatten die Entsager ihrer Phantasie freien Lauf gelassen. Lidia bemerkte nicht nur einfache, an Blockhäuser erinnernde Holzhütten, getragen von dicken Ästen, sondern auch wabenartige Gebilde, die mehr an Wespennester erinnerten. Überall gab es Plattformen und Terrassen, hier dem Sonnenschein ausgesetzt, dort im Schatten, und auf einigen von ihnen sah Lidia spärlich bekleidete Personen, jung und alt. Sie konzentrierte sich auf die Gesichter jener Männer, Frauen und Kinder, aber die Einzelheiten blieben ihr verborgen. Das K-Gerät an ihrem Kragen reagierte nicht. Die künstliche Intelligenz, die es steuerte, registrierte zwar Lidias Wunsch, wusste aber auch, dass ein elektronisches Teleskop in diesem Fall nichts nützte.
    Ein menschlicher Kellner kam und fragte nach Lidias Wünschen. Sie richtete kurz den Blick auf ihn und bestellte einen Aromatee, sah dann wieder zu den Gestalten auf den Terrassen und Plattformen im Grün der Baumwipfel. Sie versuchte sich vorzustellen, aus welcher Perspektive sie das Leben sahen. Jene Aussteiger hatten der modernen interstellaren Gesellschaft aus freiem Willen den Rücken gekehrt und sich für ein Dasein in einer einfachen, von Natur und nicht von Technik bestimmten Umgebung entschieden. Sie waren nicht so dumm, auf die Vorteile moderner Medizin zu verzichten – kaum jemand von ihnen lehnte es ab, sich im Notfall in Sirkand oder anderen Städten auf Aronnàh behandeln zu lassen –, aber bei ihrem täglichen Leben benutzten sie keine technischen Hilfsmittel, nur das, was ihnen der Wald bot. Nach fast achtzig Jahren als Kantaki-Pilotin fühlte sich Lidia eingeengt, wenn sie sich länger als ein oder zwei Wochen auf dem gleichen Planeten aufhielt, aber diese Menschen hatten beschlossen, ihr ganzes Leben auf einer einzigen Welt zu verbringen, noch dazu im Wald. Fanden sie dort Glück? Bereuten manche von ihnen ihre Entscheidung, weil sie nach vielen

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