Kantaki 01 - Diamant
während Esmeralda mit bewundernswerter Geduld weitere Fragen beantwortete. Sie erzählte mit großem rhetorischem Geschick und einer erstaunlichen Gelassenheit. Lidia hörte bald nicht mehr die Worte, sondern nur noch den Tonfall, das sanfte Auf und Ab der Stimme, das ihr wie eine Melodie erschien – Balsam für ihre Gedanken und Gefühle.
Irgendwann berührte sie jemand an der Schulter. Ruckartig drehte sie den Kopf und begriff eine halbe Sekunde später, eingenickt zu sein. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie müde sie gewesen war.
»Meine Berichte müssen ausgesprochen langweilig gewesen sein«, sagte Esmeralda und lächelte erneut jenes mädchenhafte Lächeln.
»Nein, ich …«
Die junge Frau – die alte Pilotin – winkte ab. »Schon gut. Ich hab’s scherzhaft gemeint. Man gönnt mir eine kleine Atempause.« Sie deutete durch den Aufenthaltsraum. Nur noch zwei andere Personen waren zugegen, saßen dicht neben der Kaskade in der Mitte des Raums und sprachen leise miteinander. »Was hältst du davon, wenn wir sie zur Flucht nutzen? Komm mit, Diamant.«
Kurze Zeit später traten sie durch die Tür der Pagode auf den mittelgroßen Platz. Aus dem Blau des Himmels war ein dunkles Türkis geworden, und erste Lichter brannten in der Stadt Sirkand, begrüßten den Abend. Stimmen kamen aus den Straßen und Gassen, das Klappern von Gläsern, Gelächter, Musik. Lidia fühlte sich von diesen Dingen getrennt, als befände sie sich auf einer anderen Daseinsebene und betrachtete von dort aus eine Realität, die sie nicht direkt betraf.
»Ich habe mehr als nur einige Minuten geschlafen«, sagte sie, als sie zu einem in der Nähe geparkten Levitatorwagen gingen. Er wies Kantaki-Symbole auf. »Der Abend hat bereits begonnen.«
»Offenbar bist du sehr müde gewesen.« Esmeralda blieb am Levitatorwagen stehen und zögerte, gestattete es dem Wind, mit ihrem blonden Haar zu spielen, und sah Lidia an. »Manchmal belastet uns etwas, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Manchmal schleppen wir eine Bürde mit uns herum, ohne davon zu wissen. Und so etwas ermüdet.«
»Esmeralda …« Ärger stieg in Lidia auf, wie Luftblasen in unbewegtem Wasser. »Ich weiß nicht, mit wem du gesprochen hast, aber eines steht fest: Mir liegt nichts an einem ›therapeutischen Gespräch‹ oder dergleichen. Ich bin nicht krank. «
Die junge und doch so alte Esmeralda trat einen Schritt vor, ergriff Lidia an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Das hat niemand behauptet. Und ich habe mit niemandem über dich gesprochen. Weißt du, manchmal spüre ich gewisse Dinge, wenn ich jemanden ansehe oder berühre.
Es lässt sich nicht mit Empathie vergleichen. Es ist … Erfahrung, Diamant. Ich hatte siebenhundert Jahre Zeit, das ganze Spektrum menschlicher Gefühle kennen zu lernen und entsprechende Zeichen zu deuten.« Sie ließ die Schultern los, trat zurück, holte einen Identer hervor und deaktivierte die Verriegelung des Levitatorwagens. Mit einem leisen Surren schwang eine Tür auf. »Niemand zwingt dich zu irgendetwas, Diamant. Ich wollte nur mit dir reden. Und vielleicht, nur vielleicht, könnte ich dir den einen oder anderen Rat geben. Du verlierst ein wenig Zeit, einige Stunden, aber Zeit haben wir genug, nicht wahr? Auch wenn wir uns hier im Zeitstrom befinden und der Körper Gelegenheit hat, die Distanz zum geistigen Alter ein wenig zu verringern.«
In Esmeraldas Worten erklang eine besondere Art von Frische, die Lidia wie kühlender Wind an einem heißen, schwülen Tag erschien. Sie lächelte, nahm auf dem Beifahrersitz des Levitatorwagens Platz und beobachtete, wie Esmeralda die Kontrollen mit routiniertem Geschick bediente. Der Wagen stieg auf, dem dunkler werdenden Himmel entgegen, an dem sich jetzt erste Sterne zeigten. Unten glänzten die Lichter der Stadt auf den Terrassen am Hang des riesigen Vulkans. Auch im endlosen Wald glühte es hier und dort.
Lidia lehnte sich im Sessel zurück, während der Levitatorwagen an der Flanke des Vulkans emporglitt. Sie empfand eine Ruhe, die sie seit vielen Monaten oder sogar seit Jahren nicht mehr gespürt hatte, und allein das rechtfertigte die Entscheidung, Esmeralda zu begleiten.
»Es heißt, du hättest Mutter Krirs Tod gesehen«, sagte die so jung wirkende Frau an den Kontrollen und blickte durch die transparente Kanzel des Wagens nach draußen.
»Ja, es war sehr traurig.«
»Die Kantaki sehen die Sache anders. Bestimmt hat dich Mutter Krir aufgefordert, nicht traurig zu
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