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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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sich dabei von seinem Gefühl leiten – er spürte Lidia in der Nähe.
    »Diese Kristalle sind lebende Geschöpfe«, sagte Lidia irgendwo in der Nähe. »Hat Esmeralda Ihnen davon erzählt? Sie war hier, vor etwa vierhundert Jahren, und verbrachte einen ganzen Monat auf Mirror, obwohl sie normalerweise nie so lange im Zeitstrom bleibt. Irgendwie gelingt es den Kristallen, tief in uns zu blicken, bis in den Kern unseres Selbst, und sie zeigen das, was sie dort sehen.«
    Valdorian lauschte der Stimme, die noch immer so melodisch klang wie damals, während der Spaziergänge auf der Strandpromenade von Bellavista.
    »Sie zeigen uns so, wie wir wirklich sind, ohne die Masken, die viele von uns tragen«, fuhr Lidia fort. »Was zeigen sie Ihnen, Dorian?«
    Und dann sah er sie.
    Vor Valdorian teilten sich Kristallformationen, und als er um ein wie verschnörkelt wirkendes Säulengebilde trat, sah er kein Gesicht, sondern eine ganze Gestalt. Eine junge Frau, vital und schön. Der einzige wesentliche Unterschied zu der Lidia von damals war die Kleidung: Sie trug eine ockerfarbene Kombination aus Hemdjacke und Hose, schlicht und unauffällig, sah man von den Kantaki-Symbolen ab, die überall Aufmerksamkeit geweckt hätten und jeden Beobachter auf ihren Status hinwiesen. Die großen grünblauen Augen glänzten so wundervoll wie damals, und Valdorian glaubte, den Duft ihres schwarzen Haars wahrzunehmen, obwohl ihn noch einige Meter von ihr trennten.
    »Lidia …«
    »Was zeigen Ihnen die Kristalle?«, fragte sie ruhig.
    Valdorian hörte die Frage, achtete aber nicht auf sie. »Endlich habe ich dich gefunden, gerade noch rechtzeitig …« Er trat näher.
    »Was zeigen Ihnen die Kristalle, Dorian?«, fragte Lidia zum dritten Mal.
    »Sie zeigen mir etwas, das ich nicht sehen will!«, erwiderte Valdorian mit einer Schärfe, die ihn selbst überraschte. Warum stellte sie ihm eine so dumme Frage? Verstand sie denn nicht?
    Er blieb vor ihr stehen, so nahe, dass seine ausgestreckte Hand sie hätte berühren können, und als er ihr Gesicht aus der Nähe sah, bemerkte er etwas darin, das nicht zu der Lidia von damals gehörte: Erfahrung, die Weisheit eines langen Lebens, außerdem eine innere Ruhe, um die er sie beneidete.
    »Warum wollten Sie sich mit mir treffen?«, fragte Lidia.
    Auch diese Worte verwirrten Valdorian. Es war doch alles so offensichtlich. Doch als er Antwort zu geben versuchte, als er nach den tausend Dingen griff, die alles erklärten, fand er … nichts. Nur Leere. Stumm sah er sie an, während Verzweiflung und Zorn in ihm wuchsen.
    »Ich sterbe«, sagte er schließlich. »Nur du kannst mir helfen.«
    Lidia musterte ihn und schien ebenso wie die Kristalle bis in sein Innerstes sehen zu können. »Sie sind damals ein Egoist gewesen, Dorian, und Sie sind es auch heute noch«, sagte sie. Es war kein Vorwurf – ihr Tonfall veränderte sich nicht. Sie nannte eine Tatsache, sprach von etwas, das keine andere Meinung erlaubte. »Immer denken Sie in erster Linie an sich selbst. So sind Sie aufgewachsen, und auf diese Weise geht nun Ihr Leben zu Ende.«
    Nein!, heulte es in Valdorian, aber er bemühte sich, ebenso ruhig zu sprechen wie Lidia. »Ich habe damals angeboten, dir jeden Wunsch zu erfüllen. Ist das etwa egoistisch?«
    »Mein größter Wunsch bestand darin, die Unendlichkeit zu berühren, die Ewigkeit … Erinnern Sie sich? Sie haben alles versucht, um zu verhindern, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging. Sie wollten mich für sich, und was ich wollte, interessierte Sie kaum.«
    »Das stimmt nicht«, erwiderte Valdorian, obwohl die Worte schrecklich wahr klangen. Das Flüstern und Raunen um ihn herum ließ nach. Stille senkte sich herab, und in dieser Stille wurde das Ticken der Uhr des Lebens zu einem dröhnenden Donnern. Er hob die Hände, presste sie an die Schläfen und schloss für ein oder zwei Sekunden die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich Lidias Gesichtsausdruck geändert. Mitgefühl zeigte sich in ihren Zügen und ließ ihn hoffen. »Bitte Lidia … Ich habe damals einen Fehler gemacht. Ich hätte mit dir kommen sollen. Wir haben uns geliebt, weißt du noch? Und jetzt … können wir … zusammen sein  … « Wie hohl es klang. Wie dumm und absurd. Es waren nicht die richtigen Worte, das wusste Valdorian, aber er fand keine anderen, so sehr er auch suchte.
    »Hundertzwanzig Jahren sind vergangen«, sagte Lidia. Das Mitgefühl blieb in ihrem Gesicht, aber es zeigte sich keine Liebe darin. Wie

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