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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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wurde lauter, klang nach zahllosen trockenen Blättern, von Windböen bewegt. Einige schreckliche Sekunden lang fragte sich Valdorian, ob er halluzinierte, ob all das, was er zu sehen und hören glaubte, nichts weiter war als die Ausgeburt eines sterbenden Gehirns. Er blieb stehen, stützte sich erneut an einem Kristall ab, der leicht zu vibrieren schien. Nach Lidia hielt er auch diesmal vergeblich Ausschau, obgleich er zu spüren glaubte, dass sie in der Nähe war, aber er sah etwas anderes: sich selbst.
    Die bunten Kristalle um ihn herum, ihre geneigten, verwinkelten, facettierten Flächen, zeigten sein Gesicht. Zuerst vermutete Valdorian, dass es sich um Spiegelbilder handelte, aber dann sah er, dass einige der Gesichter seinen Bewegungen nicht folgten, und außerdem gab es erhebliche Unterschiede hinsichtlich Mimik und Alter. Manche Gesichter waren jung, herrlich jung, und er erinnert sich vage daran, einmal ein solches Gesicht gesehen zu haben, beim Blick in den Spiegel, vor vielen, vielen Jahren. Die Lippen des jungen Valdorian bewegten sich, und in dem aus allen Richtungen kommenden Flüstern zeichneten sich Worte ab, gesprochene und gedachte Worte, die Auskunft gaben darüber, was damals sein Denken und Fühlen bestimmt hatte. Es waren keine Erinnerungen an Dinge, die er gesagt oder über die er nachgedacht hatte, sondern vielmehr verbale Extrakte wichtiger Augenblicke und bestimmter Phasen seines Lebens. Dutzende, hunderte von Valdorians sprachen aus der Vergangenheit zu ihm, erzählten ihm von einem Leben, das er teilweise vergessen hatte, von Ereignissen, die ihm jetzt nichts mehr bedeuteten: sein Aufstieg im Konsortium; Intrigen gegen wirtschaftliche Konkurrenten; sorgfältig geplante Anschläge, um Rivalen einzuschüchtern und zu eliminieren; eiserne Härte und Strenge, unerschütterliche Entschlossenheit. Unter seiner Führung war das Konsortium zum größten Machtfaktor im vom Menschen besiedelten All geworden, und darauf konnte er sicher stolz sein, oder? Allerdings … jetzt existierte das Konsortium nicht mehr. Er hatte alles verloren, mit einem einzigen Fehler, oder waren es mehrere? Ein Leben voller Fehler … Davon hatte sein Vater gesprochen, vor der schwarzen Tür …
    »Schluss damit«, brachte Valdorian mühsam hervor und schüttelte den Kopf, ohne dass auch nur eines der vielen Gesichter diese Bewegung wiederholte. Er sah auch die alten, hohlwangig und eingefallen, die Haut schlaff und farblos, leichenhafte Gesichter, vom Tod gezeichnet. Diese zeigten nicht nur sein wahres Alter, jedes einzelne seiner hundertsiebenundvierzig Jahre, sondern auch eine Verderbtheit, die ihn erschreckte und abstieß. Irgendetwas in jenen alten Gesichtern kündete von Fäulnis, von einer Verwesung, die schon vor vielen Jahren begonnen hatte, damals, als er noch jung gewesen war und voller Pläne für die Zukunft.
    »Das bin ich nicht«, stöhnte Valdorian und schüttelte erneut den Kopf. Er wankte weiter, vorbei an den Kristallen, wie auf der Flucht vor den Bildern, die überall auf ihn warteten.
    Und dann zeigten die Kristalle nicht mehr nur sein Gesicht, jung und alt, unschuldig und naiv, leichenhaft und verfallen, sondern auch noch ein anderes, das er gut kannte. Eine junge Frau, die aussah wie Ende zwanzig, in Wirklichkeit aber nur zwei Jahre jünger war als er selbst, das schulterlange Haar lockig und schwarz, die Augen grün und blau, wie eine Mischung aus Smaragd und Lapislazuli. Vor hundertzwanzig Jahren hatte sich diese Frau gegen ihn entschieden und beschlossen, Kantaki-Pilotin zu werden, und seitdem war sie nur um wenige Jahre gealtert, denn meistens bewegte sie sich außerhalb des gewöhnlichen Zeitstroms. Lidia hatte sich ihre Jugend bewahrt, das Leben, nach dem sich Valdorian so sehr sehnte. Und wohin er auch sah, welches Lidia-Gesicht er auch betrachtete: Keines zeigte Verfall, nicht einmal einen Schatten davon, nur glatte Reinheit.
    Er wandte sich einem von ihnen zu, streckte die Hände aus – und berührte einen Kristall. Ein Bild, nur ein Bild, nicht die echte, lebendige Lidia.
    »Wo bist du?«, fragte Valdorian erneut. »Warum treibst du ein solches Spiel mit mir?«
    »Ich habe nie mit Ihnen gespielt, Dorian, damals nicht und heute ebenso wenig.«
    Kamen diese Worte wirklich von Lidia, oder stammten sie von einer der vielen flüsternden Stimmen, die ihn zu verspotten schienen? Es fiel Valdorian immer schwerer, die Wirklichkeit vom Möglichen zu unterscheiden. Mühsam wankte er weiter und ließ

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