Kantaki 04 - Feuervögel (Graken-Trilogie 1)
nicht nur in der kleinen Stadt, sondern auch außerhalb davon. Er wäre gern mit einer Leviplattform aufgebrochen, um sich das Meer im Sturm anzusehen, um die Rauchwolken zu beobachten, die von dem Vulkan auf der Nachbarinsel aufstiegen, um durch wirbelnden Schnee zu wandern. Aber er bekam keine Gelegenheit, das Lyzeum zu verlassen. Bestimmte Türen blieben ihm verschlossen, und wenn es ihm gelang, den richtigen Kode für die gesperrten Schlösser zu finden, erschien Norene oder eine der Lehrerinnen, und das Ergebnis einer solchen Begegnung bestand oft aus der Dunkelstrafe. Norene schien nicht zu wissen, dass er die Zeit keineswegs in empfindungsloser Schwärze verbrachte, sondern in einer gebauten Welt, meistens auf der Insel mit dem weißen Strand, über den er mit Tako gegangen war. Sie mochte dreitausend Jahre alt und eine Großmeisterin sein, aber sie war nicht perfekt; es gab Dinge, die selbst ihr verborgen blieben.
Manchmal hasste Dominik sie noch mehr als seine violetten Fingerspitzen. Er hasste sie, weil sie hinter den Regeln stand, die ihm die Freiheit nahmen. Er hasste sie, weil sie auf ihn herabsah, ihn verspottete, weil sie ihn immer wieder auf seine Unzulänglichkeiten und Fehler hinwies. Er hasste sie, weil sie zu Dingen fähig war, die ihm verwehrt blieben. Er hasste sie, weil sie ihm immer wieder vor Augen führte, wie wenig er wusste, und weil sie von ihm verlangte, seine Gefühle aufzugeben.
Vor allem aber hasste er Norene, weil er nie ein freundliches Wort von ihr hörte, weil er nie eine zärtliche Geste von ihr erwarten durfte. Sie blieb immer unnahbar und kalt, so kalt wie das Eis, das draußen unter einem finsteren Himmel wuchs. Einmal hatte er von einer anderen Norene geträumt, die ihn in ihre Arme schloss, und es war eine ganz andere Umarmung gewesen als die, die er sich von Loa erhoffte. Er hatte sich darüber gefreut und war gleichzeitig erschrocken, weil er Norene doch hasste, und das aus gutem Grund. Schließlich hatte er begriffen, dass er sich nach einer »Mutter« sehnte, nach einer Person, bei der er Zuflucht suchen, Trost und emotionalen Beistand finden konnte. Norene 19 erschien ihm dafür denkbar ungeeignet, und wenn er seine unbewusste Muttersehnsucht auf sie projizierte, so schloss er daraus, dass seine Verzweiflung ein kritisches Maß erreicht hatte.
Es kam vor, dass er auf diese Weise über sich selbst nachdachte, dass er versuchte, die eigenen Gefühle, die oft zueinander im Widerspruch standen, zu analysieren, um sie besser zu verstehen. Eine derartige Denkweise erinnerte ihn an Loas intellektuellen Modus, wenn sie ganz Vernunft und Rationalität sein wollte, und dann lächelte er manchmal. Die Gedanken an sie waren bittersüß, geprägt von dem Wunsch, ihr nahe zu sein. Manchmal sah er sie, wenn er zum Unterricht ging, aber immer nur von weitem, denn Norene hielt sie voneinander fern. Nach den Erlebnissen in der Transitstation Tellarus hatte er nur ein einziges Mal mit ihr sprechen können, ganz kurz, und sie war ernst geblieben. Doch zum Schluss, als sie auseinander gingen, hatte sie gelächelt, und die Erinnerung daran bewahrte Dominik an einem besonderen Platz in seinem Gedächtnis auf, gut geschützt vor den neugierigen Gedanken Norenes oder anderer Tal-Telassi. Wenn es ihm schlecht ging, wenn er sich so allein fühlte, dass er am liebsten mit den Fäusten an die Wand getrommelt hätte, wenn er glaubte, sich in seinem eigenen emotionalen Durcheinander zu verlieren … Dann holte er die Erinnerung an das Lächeln hervor, um sich selbst zu trösten. Seine Gefühle aufzugeben hätte auch bedeutet, jenen letzten Trost zu verlieren, und das war einer der Gründe dafür, warum er nicht wirklich den Versuch unternahm, seine Emotionen zu überwinden. Bei den entsprechenden Lektionen erweckte er den Eindruck, bemüht zu sein, aber eigentlich setzte er bei ihnen nur den Versuch der Selbstanalyse fort. Er wollte verstehen , nicht neutralisieren. Der spezielle Bion, mit dem Norene ihn nach dem Beschreiten des schmerzvollen Weges ausgestattet hatte, half ihm dabei, ohne ihm die Gefühle zu nehmen. Nach nur einem Tag war Dominik imstande gewesen, die von dem Bion verursachte emotionale Benommenheit zu überwinden und ihn zu einem Werkzeug seines Willens zu machen – er wollte sich von nichts und niemandem kontrollieren lassen. Diese geistige Leistung erfüllte ihn mit Stolz, und er hätte Norene gern darauf hingewiesen, bewies sie doch, dass er mehr war als nur ein »dummer
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