Kantaki 04 - Feuervögel (Graken-Trilogie 1)
Schüler«. Er konnte die einzelnen Stufen des Tal-Telas auch mit seinen Emotionen erreichen, und ohne zuvor das Zentrum aufzusuchen. Die Sache mit dem neuen Bion bewies das ebenso wie seine nächtlichen Wanderungen.
Wenn er nachts nicht schlafen konnte, oder wenn er sich ablenken wollte, schickte er seine geistigen Augen und Ohren auf die Reise. Während er im Bett lag, wanderte ein Teil seines Bewusstseins durch Tarion, nahm wahr, ohne dass die Sinnesorgane des Körpers zugegen waren. Normalerweise sollte ein Schüler nicht zu so etwas in der Lage sein, denn es bedeutete, dass er mindestens die Stufe Berm, Gedanke über Materie, erreicht hatte. Aber Dominik wusste längst, dass die einzelnen Stufen des Tal-Telas für ihn nicht klar abgegrenzt waren und ineinander übergingen. Alma, das Verbinden der Seele mit dem Gegenständlichen, fiel ihm so leicht wie das Atmen, und wenn er sich konzentrierte, gelang es ihm manchmal, die Stimme der Materie zu hören, was eigentlich erst mit Erreichen der Stufe Gelmr möglich sein sollte. Wie konnte es eine direkte Verbindung zwischen der ersten und siebten Stufe geben? Wussten die Meisterinnen davon? Oder hatte er, der einfache Schüler, etwas Neues im Tal-Telas entdeckt, fünftausend Jahre nach der Gründung des Ordens? Die Vernunft wies ihn darauf hin, wie unwahrscheinlich so etwas war, aber der Dominik, der sich wünschte, etwas Besonderes zu sein, hätte gern daran geglaubt. Vielleicht auch deshalb, weil Norene ihn nicht mehr verspotten würde, wenn er wirklich etwas Besonderes war.
Auch in dieser Nacht wanderte er, unsichtbar, durch Lyzeum und Stadt, ohne nach Loana zu suchen, wie zu Beginn seiner Ausflüge. Seit sie ganz offiziell zur Schülerin der ersten Stufe geworden war, wohnte sie nicht mehr in ihrem alten Quartier. Einmal hatte er die Möglichkeit erwogen, telepathisch nach ihr zu rufen, aber er wusste, dass er Delm nicht gut genug beherrschte: Nicht nur Loa hätte seinen Ruf vernommen, sondern auch alle anderen, Schüler und Meisterinnen.
Wände und Türen stellten keine Hindernisse für ihn dar, wenn er seine geistigen Augen und Ohren auf die Reise schickte. Nur bestimmte Bereiche, die allein den Meisterinnen vorbehalten waren, konnte er nicht aufsuchen; dort gab es selbst für seine wandernden Gedanken undurchdringliche Barrieren. An einer von ihnen verharrte er und versuchte, einen Weg hindurch zu finden, aber seine Bemühungen blieben erneut erfolglos. Er begriff, dass er lernen und wachsen musste, bevor er hoffen durfte, auch diese ihm noch unzugänglichen Orte zu erreichen. Das galt auch für die Lösung des anderen Problems: Je weiter sich die mentalen Augen und Ohren von seinem Körper entfernten, desto undeutlicher wurde ihre Wahrnehmung. Geistige Ausflüge außerhalb der Stadt waren unmöglich.
Dominik beobachtete fleißige Haitari bei der Arbeit, ohne dass sie etwas von seiner Präsenz ahnten. Er blickte in Schächte, die einige Kilometer weit in die Kruste des Planeten hinabreichten und neue Anlagen aufnehmen sollten, die Energie aus der Wärme im Innern von Kyrna gewannen. Er wanderte durch Gärten unter Kuppeln, über denen Ambientalfelder fallenden Schnee ablenkten. Einmal verharrte er an einer Außenwand und lauschte der Stimme des Sturms, die Freiheit versprach. Er sah Schülerinnen hinterher, die vom Meditationsbad kamen und zu ihren Unterkünften zurückkehrten. Er schwebte durch große Thermen, vorbei an Frauen und Mädchen im warmen Wasser, und der Anblick ihrer nackten Körper berührte etwas in ihm, das vorher nicht existiert hatte. Trotzdem verlor er rasch das Interesse an ihnen und setzte den mentalen Streifzug durch eine große Zyotenfarm fort, in der generische Bione heranwuchsen, noch ohne strukturelle Prägung. In dem daran angegliederten mnemonischen Zentrum lag eine Tal-Telassi, in deren Körper der zellulare Zerfall begonnen hatte. Neben ihr ruhte eine junge Frau, verbunden mit den Systemen eines Resurrektors: ein Klon, der die Erinnerungen der Tal-Telassi aufnahm. Dominik kannte sie aus dem Unterricht: Sibillia 6, zuständig für kulturhistorische und ethnische galaktische Geschichte, eine noch relativ junge Meisterin, erst gut tausend Jahre alt; in einigen Tagen würde sie Sibillia 7 sein. Dominik fragte sich, ob auch er einmal an einem solchen Ort liegen würde, sein erster Körper alt und verbraucht, das Bewusstsein dazu bereit, auf einen Klon übertragen zu werden: Dominik 2, einziger männlicher Meister der
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