Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
Vom Netzwerk:
agierenden Online-Medien sind es außerdem nach wie vor die klassischen Nachrichtenagenturen, die eine große Rolle spielen. Ihre Dienste werden ausschließlich von Journalisten in Anspruch genommen, der normale Bürger »kauft« die Agenturnachrichten nicht. Bei Medienleuten genießen sie hohes Ansehen. Für uns in der heute-journal -Redaktion sind sie immer noch wichtiger als die meisten Online-Dienste. Auch für die Agenturen gilt dabei die »Zwei-Quellen-Regel«: Wenn zum Beispiel sowohl die Agentur dpa als auch die Agentur reuters unabhängig voneinander berichten, dass es bei einem Anschlag Tote gegeben hat, melden wir das in unserer Sendung. Die Meldung eines einzelnen Bloggers genügt uns da nicht.
    Diese Mechanismen gegebenenfalls geschickt auszunutzen, nennt man »Agenda Setting« – so können Politiker, Unternehmen und Interessenverbände versuchen, über die Medien ein Thema, das ihnen wichtig ist, in das allgemeine Bewusstsein zu rücken. Sie reden zum Beispiel in diskreten Gesprächskreisen mit Journalisten darüber, sie laden Journalisten zu Pressekonferenzen ein, oder sie erwähnen das Thema ständig in Interviews. Diese Technik lässt sich auch verwenden, um Fragen auszuweichen, die man nicht so recht beantworten kann oder will – ein unangenehmes Thema wird dann von einem selbst gewählten neuen abgelöst. Ein geschicktes und wirkungsvolles Ablenkungsmanöver.
    Mit dieser Technik kommt man auch in vielen beruflichen Situationen weit. Wenn man im Meeting eine Frage nicht beantworten kann, weicht man aus: »Das lässt sich so einfach nicht sagen, auf jeden Fall sollte man dabei aber bedenken …« Und dann schwafelt man so lange über irgendetwas halbwegs Sachverwandtes, bis alle vergessen haben, worum es eigentlich ging. Man nennt das »Agenda Cutting«. In Fernsehinterviews etwa im heute-journal ist das eine beliebte Technik. Der Politiker will dann seine Botschaft loswerden, egal, was er gefragt wird. Und gerne wird dabei auch Zeit geschunden, denn natürlich weiß ein Profi, dass in einer Nachrichtensendung nur wenige Minuten für ein Interview zur Verfügung stehen. Je länger er am Stück antwortet, umso weniger Zeit bleibt für weitere unangenehme Fragen. Ich stehe in solchen Situationen in unserem Nachrichtenstudio und sehe aus den Augenwinkeln auf einer großen Uhr, wie die Zeit abläuft. Dann bleibt mir manchmal nichts anderes übrig, als den Redefluss zu unterbrechen. Manche Zuschauer empfinden das dann als unhöflich. (»Warum unterbricht Frau Slomka den Herrn Minister?«) Sie sehen allerdings auch nicht wie ich diese große Uhr laufen …
    Wenn Politiker ungeplante Ereignisse nutzen, um sich positiv darzustellen, zum Beispiel als schnelle Helfer bei einer Naturkatastrophe, dann heißt das ganz lässig »Agenda Surfing«. Man sollte Politikern dabei nicht unterstellen, dass sie Katastrophen nur ausnutzen. Aber politisch nützlich können solche Krisen trotzdem sein, weil man sich als Macher und Helfer zeigen kann. Beim Elbhochwasser 2002 marschierte Gerhard Schröder in Anglerstiefeln und Friesennerz kernig überflutete Straßen entlang – und holte sich so einen nicht zu unterschätzenden Sympathievorsprung für die folgende Bundestagswahl. Das war für ihn ein Vorteil, klar. Aber man stelle sich vor, er wäre nicht in die Hochwassergegend gekommen. Dann hätten die Leute gesagt: Der Kanzler kümmert sich nicht um uns. Grundsätzlich zeigen sich Politiker natürlich gerne »nah bei den Menschen« und kleiden sich bei solchen Auftritten auch zünftig, um zu belegen, dass sie nicht abgehoben sind, sondern wissen, wie es im wahren Leben aussieht. Deshalb sind Landwirtschaftsminister so oft zu sehen, wie sie auf der Landwirtschaftsmesse »Grüne Woche« in Würste beißen oder Wein trinken. Oder sie treten auf Bauernhöfen auf und lassen sich beim Wasserschöpfen, Mistschaufeln oder als Geburtshelfer für Lämmchen ablichten. Dabei tragen sie natürlich zünftige Jacken und Gummistiefel. Journalisten bezeichnen derartige Auftritte spöttisch als einen »Gummistiefel-Termin«.
    Den ersten großen Auftritt dieser Art hatte der damalige Hamburger Polizeisenator Helmut Schmidt, der später Bundeskanzler wurde. Bei der schweren Sturmflut 1962 rief er beherzt über persönliche Kontakte Bundeswehrsoldaten zu Hilfe, obwohl er das eigentlich nicht durfte. Er selbst war ebenfalls vor Ort. Schmidt erwarb sich so den Ruf als »Macher«. Für Oppositionspolitiker ist es bei nationalen Katastrophen

Weitere Kostenlose Bücher