Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
auch deshalb Erfolg, weil viele Menschen sich von Politikern sowieso nur allumfassend belogen fühlen. Politiker trauen sich tatsächlich oft nicht, ehrlich zu sagen, was Sache ist. Weil sie nicht ganz zu Unrecht befürchten, dass ihnen diese Ehrlichkeit niemand dankt. Solange man in der Opposition ist, geht das noch sehr gut. Aber sobald man ein Regierungsamt innehat oder anstrebt (etwa als Kanzlerkandidat) wird das sehr schwierig, mit dem »Geradeaus-Sprechen«. Andererseits: Wenn Politik immer mehr verschwurbelt, wenn immer seltener Klartext gesprochen wird, dann fällt es auch immer schwerer, Menschen zu überzeugen.
Warum ist es so, dass meine Kollegen in der Regie nach aufgezeichneten Politikerinterviews oft sagen: »Weißt du, das Nachgespräch war das Interessanteste. Schade, dass man das nicht senden kann.« Das Nachgespräch ergibt sich dadurch, dass man Interviews aus Termingründen oft schon um 20.00 Uhr aufzeichnet, und so noch ein paar Minuten hat, in denen die Kollegen aus der Regie die technische Qualität der Aufzeichnung prüfen – und natürlich schweigt man sich in der Zeit nicht stur an, sondern redet noch ein bisschen weiter. Vorausgesetzt, beide sind nach dem Interview noch in Plauderlaune … Bei diesen Nachgesprächen jedenfalls ist der Politiker plötzlich wieder Mensch. Redet normal, der Duktus, ja selbst die Körperhaltung ist wie ausgewechselt. Es geht viel offenherziger zu – ohne dass dabei Geheimnisverrat begangen würde. Doch wenn ein solch zunächst nicht-öffentliches Gespräch dann plötzlich öffentlich wird, wie im heute-journal 2012 geschehen, als Horst Seehofer im Nachgespräch mit meinem Kollegen Claus Kleber ganz unverblümt über den CDU -Umweltminister Norbert Röttgen lästerte, ist das für das Publikum eine regelrechte Offenbarung. Dieses Nachgespräch wurde öffentlich, weil Claus Kleber den bayerischen Ministerpräsidenten darauf aufmerksam machte, dass ich kurz zuvor vor der Gesellschaft für Deutsche Sprache eine Rede gehalten hatte, in der ich ausdrücklich auf dieses Phänomen hinwies: dass die Nachgespräche oftmals aufschlussreicher seien als die Interviews selbst. Dieses Gespräch sei dafür ein typisches Beispiel, sagte Claus Kleber. Darauf rief Horst Seehofer fröhlich: »Das können Sie ruhig alles senden, wenn Sie wollen.« Was sich Claus Kleber und unsere heute-journal -Redaktion nicht zweimal sagen ließen! Prompt wurde eine Riesengeschichte daraus, die möglicherweise den unfreiwilligen Rücktritt von Norbert Röttgen befördert hat. Seehofer hatte ihm gewissermaßen den Rest gegeben – und hatte das wohl auch so eingeschätzt, dass der CDU -Kollege parteiintern bereits »zum Abschuss freigegeben war«, um es mal brutal auszudrücken. Einem Politfuchs wie Seehofer sollte man zumindest nicht unterstellen, dass er nicht wusste, was er tat, und nur aus Versehen solche Einblicke nachträglich gewährte. Für die Fernsehzuschauer war es aber auf jeden Fall sehr interessant, zu sehen, wie »anders« sich Politiker ausdrücken, wenn sie nicht »offiziell« sind .
Diese Erfahrung habe ich im Laufe der letzten fünfzehn Jahre, die ich beim Fernsehen arbeite, aber tatsächlich immer wieder gemacht. Dass viele von uns inoffiziell ganz anders sind. Nicht nur Politiker. Es ist ein generelles Phänomen im Fernsehen, dass die Protagonisten in natura häufig anders rüberkommen als auf dem Bildschirm. Übrigens gilt das offenbar auch für mich selbst, was einen dann auch nicht immer freut. Wenn Sie beim Kaufhof an der Käsetheke stehen und eine andere Kundin greift einem zwischen Appenzeller und Gouda in den Arm und sagt: »Also, Frau Slomka, in natura sehen Sie ja viel jünger und netter aus«, hält sich meine Begeisterung durchaus in Grenzen! Ich weiß selbst nur zu gut, dass es nicht leicht ist, vor einer Kamera – sprich: vor einem unsichtbaren Millionenpublikum – zu stehen, in einer Rolle, in der man unablässig auf der Hut sein muss, was man sagt, und dabei trotzdem total natürlich, authentisch und spontan wirken soll. Insofern will ich auch nicht wohlfeil lästern über das, meiner Beobachtung nach, zunehmende Unvermögen der politischen Klasse zur massenmedialen Kommunikation. Aber ich frage mich: Muss das so sein?
In Deutschland gibt es, so mein Eindruck, generell einen auffällig großen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Sprache, größer als etwa im Angelsächsischen. Bei Politikern wirkt sich diese Diskrepanz besonders problematisch
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