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Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
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findet sich übrigens nicht nur bei den etablierten Parteien. Auch das Wahlprogramm der Piraten ist in einem solchen Duktus geschrieben. Etwa beim Thema Urheberrecht, dem Kernthema der Partei: »Die Rückführung von Werken in den öffentlichen Raum ist daher nicht nur berechtigt, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit der menschlichen Schöpfungsfähigkeiten von essenzieller Wichtigkeit.« Hilfe!
    Was mich umtreibt: Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser verkrampfte Gremienstil angewandt wird, eben nicht nur in verschrifteter Form, in Wahlprogrammen, sondern auch in Fernsehinterviews, im heute-journal , das dem Politiker doch eine gute Plattform zur politischen Kommunikation mit einem Millionenpublikum bietet. Doch diese Chance bleibt oft ungenutzt. Etwa wenn die ehemalige SPD -Gesundheitsministerin Ulla Schmidt auf meine Frage nach dem wichtigsten Punkt ihrer Reformpläne antwortete: »Das Kernstück des Risikostrukturausgleichs ist der Aufbau von Disease-Management-Programmen und die Einrichtung eines Risiko-Pools für besonders hohe Ausgaben.« Hallo?
    Manchmal sind sich Minister wohl auch nicht sicher, ob sie selbst alles verstanden haben, was in ihrem Ministerium vor sich geht. Es geht vielfach um schwierige und hochkomplizierte Themen. Also halten sie sich lieber streng an das, was ihnen die Fachleute aufgeschrieben haben, um nur ja nichts Falsches zu sagen. Etwas Falsches zu sagen und dumm dazustehen, ist für einen Politiker nun mal tödlich. Und natürlich gibt es politische Bereiche, in denen unbedachte oder zu deutliche Aussagen tatsächlich schwerwiegende politische oder wirtschaftliche Folgen haben können. Ein Sponti-Spruch des Finanzministers, und die Börsenkurse brechen ein. Auch Außenminister müssen ihre Worte selbst dann sorgfältig abwägen, wenn sie zu einem inländischen Publikum sprechen. Denn die Vertreter des Auslands hören zu.
    Ich glaube gar nicht, dass es immer um bewusste Verschleierungen und Beschönigungen geht, wenn Politiker in Polit-Sprech verfallen. Oft sind das eher Nachlässigkeiten – man hat sich den ganzen Tag mit Fachleuten unterhalten, und dann abends im TV -Interview umzuschalten und normal verständlich zu reden, fällt schwer. Man hat als Spitzenpolitiker wenig Kontakt mit Leuten, die sich nicht mit den gleichen Sachen auskennen. In den Ministerien werden die Minister von Fachleuten »gebrieft«, in Ausschüssen werden Experten angehört. Und so geht es den ganzen Tag weiter. Der Gesundheitsminister zum Beispiel redet ständig mit Vertretern der Pharma-Industrie und mit Ärzten. Bei dem dort verwendeten Fachvokabular wissen alle, worum es geht. Zum Beispiel »Kopfpauschale« oder »Gesundheitsfonds«. Monatelang haben Minister und Fachleute daran gearbeitet und darüber diskutiert. Dass andere Menschen keine Ahnung haben, was damit gemeint ist und wie das funktioniert, können sie sich offenbar nur noch schwer vorstellen.
    Typisch ist zum Beispiel einSchaltgespräch mit unserem CDU -Finanzminister zur Griechenland-Rettung zu dem Zeitpunkt, als Griechenland erstmals Antrag auf Finanzhilfe gestellt hatte. Meine Frage lautete: »Sie haben vor Kurzem noch gesagt: Wir Deutschen können nicht für Griechenlands Probleme zahlen. Aber genau das machen wir doch jetzt, oder?«Darauf Wolfgang Schäuble: »Nein, wir beteiligen uns gegebenenfalls, wenn ein glaubwürdiges Sanierungsprogramm mit dem IWF und der EZB und der Europäischen Kommission vereinbart ist, an einem Kredit der Euro-Gruppe für Griechenland durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau.« IWF und EZB und KFW und Euro-Gruppe in einem Satz rauszudonnern – und davon auszugehen, dass jeder direkt weiß, wer da wer ist und welche Aufgaben übernimmt? Es sind diese kleinen, alltäglichen, unspektakulären Sprachbarrieren, die mich beschäftigen.
    In anderer Hinsicht bezeichnend ist es, wenn zum Beispiel Kurt Beck auf einem SPD -Parteitag sagt, man müsse darüber reden, »wie die soziale Dimension des Lebens realistisch und nicht nur illusionistisch in die Zukunft getragen werden könne«. Zu sagen: Wir müssen mal diskutieren, wie viel Sozialstaat wir uns noch leisten können – das würde wohl zu banal klingen. Möglicherweise sprach er aber auch deshalb so, weil er ein Jahr zuvor erfahren hatte, was man lostritt, wenn man als Sozialdemokrat von einem »Unterschichtenproblem« spricht, wobei er den Begriff übrigens eigentlich nur zitiert hatte.
    An der Stelle muss ich mich als Medienvertreterin auch fragen,

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