Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
Europa aber gesunken – übrigens auch in Polen.
Kritisiert wird außerdem, dass einzelne Länder es mit ihren Pflichten im Schengen-Raum, zum Beispiel bei der Kontrolle von Flüchtlingen, nicht so genau nehmen. Viele Flüchtlinge aus Afrika versuchen illegal, also ohne Aufenthaltsgenehmigung, nach Europa einzureisen. Vereinbart ist, dass sich darum die Länder kümmern, die diese Flüchtlinge zuerst betreten. Das sind im Süden vor allem Italien und Spanien, denn viele Flüchtlinge kommen von Afrika übers Mittelmeer und landen dann erst mal in Italien. Deutschland ist bei dieser Regelung fein raus, denn wir haben keine so leicht erreichbaren Außengrenzen. Wir haben es eher mit illegalen Einwanderern aus Russland oder der Ukraine zu tun. Eigentlich müssten sich die Italiener mit ihren Außengrenzen im Meer um jeden einzelnen Flüchtling kümmern und dafür sorgen, dass er gegebenenfalls zurückgeschickt wird. Sie machen sich oft aber gar nicht erst die Mühe, jeden einzelnen Flüchtling zu befragen und gegebenenfalls abzuweisen, sondern lassen die Leute zum Beispiel einfach weiter nach Deutschland reisen. Denn die Insel Lampedusa, die eigentlich eine Ferieninsel sein soll, quillt längst über vor lauter Flüchtlingen aus Afrika. Damit ist Italien zunehmend überfordert und verlangt von den anderen EU -Ländern mehr Hilfe. Wie es weitergehen soll, wird seit etlichen Jahren diskutiert. Zuletzt hat das Europäische Parlament eine Neufassung der Schengen-Regeln verabschiedet. Damit wird es den Mitgliedsstaaten erleichtert, kurzfristig doch wieder Grenzkontrollen durchzuführen, in sogenannten »Notfällen«. Wie diese Notfälle definiert sind, ist allerdings nicht ganz klar umrissen. Was eine »schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit« ist, wie der Gesetzestext es formuliert, ist letztlich Interpretationssache. Kritiker befürchten, dass die Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums damit wieder eingeschränkt wird, ohne damit das Flüchtlingsproblem lösen zu können.
Maastricht, Nizza, Lissabon: weitere Stationen der Europareise
In der Entwicklung der EU blieb es nicht beim Schengen-Abkommen. Wichtige Verträge gingen voraus, und viele weitere folgten; Verträge werden in der EU gern nach dem Ort benannt, in dem sie unterschrieben wurden. Im »Vertrag von Paris« wurde 1951 die Montanunion (Kohle und Stahl) vereinbart, der erste Vorläufer der EU . In den »Römischen Verträgen« gründete man 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ( EWG ) und die Euratom. Im »Vertrag von Maastricht« wurde 1992 die Europäische Union gegründet. Der »Vertrag von Amsterdam« sollte 1997 dafür sorgen, dass die EU nach der für 2004 geplanten Osterweiterung handlungsfähig bleibt. Die Zahl der Mitglieder wurde damals ja beinah verdoppelt, und damit konnte man nicht einfach so weitermachen wie bisher. Daher wurden zum Beispiel die Befugnisse des Europäischen Parlaments deutlich erweitert, um die EU demokratischer zu machen. Als Reform reichte das aber nicht, und so gab es drei Jahre später schon einen neuen Vertrag: Im »Vertrag von Nizza« wurden Ende 2000 mehrere Änderungen beschlossen. Die wichtigste: Für die Entscheidungen im Ministerrat ist keine Einstimmigkeit mehr nötig, sondern nur noch eine »qualifizierte Mehrheit«. Heißt: Ein einzelnes Land kann nicht alles blockieren, aber man braucht doch mehr als nur 50 Prozent aller Stimmen. In einigen Fällen müssen es sogar zwei Drittel aller Stimmen sein, und manchmal muss die Stimmenmehrheit auch mindestens eine bestimmte Anzahl von EU -Bürgern vertreten. Das ist wichtig, weil manche Kleinstaaten bei den Abstimmungen im Rat mehr Gewicht haben, als ihnen aufgrund ihrer geringen Bevölkerungszahlen eigentlich zustünde. Die Kleinen werden in der EU immer ein bisschen bevorteilt, damit sie sich nicht überrollt fühlen von Großmächten wie Frankreich oder Deutschland. 2004 nahm man sich Großes vor: Die Regierungen unterzeichneten einen Vertrag für eine Europäische Verfassung, geschichtsträchtig wieder mal in Rom. Die EU sollte eine einheitliche Struktur bekommen (bis dahin bestand sie ja nur aus lauter Einzelverträgen), eine Grundrechtcharta, außerdem sollte sie demokratischer und handlungsfähiger werden, dafür waren diverse Reformen vorgesehen, zum Beispiel eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Aus all dem wurde allerdings nichts. In mehreren Ländern wurden Volksabstimmungen über die Verfassung abgehalten,
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