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Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
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die scheiterten. Damit hatte man nicht gerechnet. Vor allem der französische Präsident rieb sich die Augen – er hatte freiwillig eine Volksabstimmung abhalten lassen, um die besondere Bedeutung der neuen europäischen Verfassung zu unterstreichen, und war fest davon ausgegangen, dass es damit keine Probleme geben würde. Nach diesem Denkzettel verordneten sich die Europäer erst mal eine offizielle »Denkpause«. 2007 hatte man lange genug gedacht, es wurde der »Vertrag von Lissabon« unterschrieben. In ihm finden sich viele Regelungen der gescheiterten Verfassung wieder. Er ist aber nur ein Vertrag, keine richtige Verfassung. Dummerweise war auch dafür eine Volksabstimmung erforderlich, nämlich in Irland. Prompt passierte dasselbe wie bei der Abstimmung über die Europäische Verfassung: Viele Iren waren misstrauisch Europa gegenüber, viele wussten gar nicht, worum es ging, und in Irland waren zudem gerade sehr viele Bürger sehr genervt von ihrer eigenen Regierung. Also gab es wieder einen Denkzettel – die Iren stimmten gegen den neuen EU -Vertrag. Dasselbe hatten sie 2001 schon mal getan, damals gegen den Vertrag von Nizza; daraufhin hatten die Iren 2002 noch mal abstimmen müssen, da klappte es dann mit dem Ja. Genauso löste man das Problem auch diesmal: Die Iren mussten so lange wählen, bis das gewünschte Ergebnis herauskam, am Ende immerhin eine Zustimmung von knapp 70 Prozent. 2009 konnte der Lissabon-Vertrag in Kraft treten. Ein Prozedere mit Beigeschmack. Dabei sind die Iren gar nicht mal schlecht weggekommen in dem Vertrag – dass sie sich mit der Zustimmung so schwertaten, ist eher ein Beispiel dafür, dass ein Volk nicht immer »rational« abstimmt. Europa ist wohl selbst für die sogenannte Schwarmintelligenz manchmal zu sperrig und zu abstrakt …
    Wer ist Mr. oder Mrs. Europa?
    »Europa? Wen soll ich denn da anrufen?«, hat angeblich der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger gefragt. Und da liegt er nicht ganz falsch. Denn eine richtige Europa-Regierung, die automatisch für alle spricht, gibt es ja nicht. Also kann es auch keinen Regierungschef geben, ob der nun Präsident oder Kanzler hieße. Wer mit Europa verhandeln will, muss also im Zweifelsfall zuerst die drei wichtigsten Einzelstaaten anrufen, sprich: das Telefon in Berlin, Paris und London klingeln lassen. Aber da sind durchaus auch noch andere interessante Ansprechpartner. Einen Europa-Präsidenten gibt es nämlich sehr wohl!
    Lange Zeit wurde der nicht gewählt, sondern die Regierungschefs aller Mitgliedsstaaten kamen reihum für je sechs Monate dran – Anfang 2007 war zum Beispiel die deutsche Kanzlerin Angela Merkel »Vorsitzende des Europäischen Rates«, weil Deutschland turnusgemäß die »Ratspräsidentschaft« innehatte. Mit dem Vertrag von Lissabon (seit 2009 in Kraft) wurde das Amt ersetzt durch den Präsidenten des Europäischen Rates , der von den anderen Ratsmitgliedern (den Staats- und Regierungschefs) für je zweieinhalb Jahre gewählt wird. Das ist eine halbe EU -Wahlperiode, also nicht wirklich lang, aber immerhin mehr als nur sechs Monate, und man kann einmal wiedergewählt werden. Dafür muss sich der Präsident dann auch nur um Europa kümmern und darf nicht nebenher noch ein nationales Amt innehaben. Das kann ein hübscher Posten sein für einen ehemaligen oder scheidenden nationalen Regierungschef. Als Erster für diesen neuen Job wurde Herman Van Rompuy gewählt, der dafür sein Amt als belgischer Regierungschef aufgab. 2012 wurde er als Ratspräsident wiedergewählt, somit endet seine Amtszeit Ende 2014.
    Das Europäische Parlament hat auf diese Postenvergabe übrigens keinen Einfluss, der Ratspräsident hat also keine größere demokratische Legitimation. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört es, die europäischen Gipfel vorzubereiten. Dabei entwickelte sich Van Rompuy in der Euro-Krise zu einem veritablen Krisenmanager, der zwischen den Staaten geschickt und leise vermittelte und sich erstaunlich nützlich machte. Das hatte man dem blassen Technokraten aus Belgien gar nicht so zugetraut.
    Unklar ist, inwieweit sich der Ratspräsident und der Präsident der Europäischen Kommission in die Quere kommen können. Den Kommissionspräsidenten gibt es ja ebenfalls, er ist sogar für fünf Jahre gewählt – und zwar vom Europäischen Parlament (also den Abgeordneten der Mitgliedsstaaten), was ihm eine größere Legitimation verleiht. Seit 2004 ist der ehemalige Ministerpräsident Portugals,

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