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Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
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dann wird sie sich eher der islamisch-arabischen Welt zuwenden. Das könnte weitreichende, für Europa eher ungünstige Folgen haben, denn sie ist aufgrund ihrer Lage ein wichtiger Brückenkopf in den Nahen Osten.
Die EU betont ihre kulturelle Vielfalt, Religionsfreiheit gehört zu ihren Grundwerten, und es leben mittlerweile rund 44 Millionen (6 Prozent) Menschen muslimischen Glaubens in Europa. Vor diesem Hintergrund passt die Türkei zu Europa und könnte sogar ein Vorbild für andere muslimische Länder sein, die sich mit Freiheitsrechten und Sozialreformen sehr schwertun. Auch wenn der Islam in der Türkei erstarkt, ist sie immer noch ein laizistischer Staat, in dem Staat und Religion getrennt sind.
Die Türkei ist ein attraktiver Markt; aktuell erlebt sie einen Wirtschaftsboom und ist besser durch die internationale Finanzkrise gekommen als viele EU -Länder. Wenn sie zur EU gehört, wird es noch mehr Handel und engere wirtschaftliche Beziehungen geben, wovon alle profitieren.
Die Befürchtung, dass nach einem Beitritt viele arme Türken in die EU einwandern, kann kein Argument sein. Es wandern derzeit auch viele arme Rumänen und Bulgaren ein, und in ehemaligen Kolonialländern wie Frankreich leben viele Einwanderer aus den Maghreb-Staaten und in Großbritannien viele Bürger des Commonwealth, zum Beispiel zahlreiche Inder und Pakistani.
    Argumente gegen einen Beitritt:
Die Türkei gehört geografisch nicht zu Europa, sondern größtenteils zu Asien. Und die EU sollte an ihren Außengrenzen nicht bis an Syrien, Iran und Irak heranreichen. Das geht »zu weit«.
Trotz vieler Reformen ist sie immer noch ein Land, in dem die demokratischen und rechtsstaatlichen Maßstäbe der EU nicht verwirklicht sind, etwa im Bereich Justiz, Menschenrechte, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Presse- und Meinungsfreiheit. Wie eklatant diese Defizite sind, wurde gerade überdeutlich sichtbar bei den Protesten gegen den autoritären Regierungsstil von Ministerpräsident Erdogan. Die heftige Reaktion der Staatsgewalt auf ihre Kritiker, von brutalem Polizeieinsatz über Einschüchterung der Medien bis hin zu einer massiven Verhaftungswelle, die sich mit rechtsstaatlichen Prinzipien in keiner Weise vereinbaren lässt, hat europaweit Bestürzung ausgelöst.
Der Islam passt nicht zur christlich-jüdischen Kultur des europäischen »Abendlandes«. Die Türkei ist aber ein islamisches Land und hat inzwischen auch eine ausdrücklich islamische Regierung. Das war in den sechziger Jahren, als das Land begann, sich für eine Mitgliedschaft zu interessieren, noch anders. Es galt im Sinne von Atatürk (1881–1938, Gründer der modernen Republik Türkei) eine besonders strikte Trennung von Staat und Religion, viel strenger als bei uns. Kopftücher waren in sämtlichen staatlichen Institutionen verboten. Inzwischen wird dieses Verbot gelockert, an Universitäten zum Beispiel dürfen sie jetzt getragen werden. Die größere Freiheit für gläubige Muslime geht allerdings mit Bestrebungen einher, die Freiheiten aller Bürger einzuschränken. Dass die Regierung Erdogan zum Beispiel den Alkoholausschank verbieten will, wird von vielen Türken als Einmischung in ihr persönliches Leben und als Islamisierung durch die Hintertür empfunden.
Wenn auch für alle Türken die Freizügigkeit in der EU gilt, werden aus den armen Regionen des Landes sehr viele Menschen in die westlichen EU -Länder strömen, darunter vermutlich besonders viele nach Deutschland, weil hier ja bereits viele Türken und türkische Kurden leben.
Die Türkei wäre mit knapp 80 Millionen Menschen auf Anhieb einer der größten und damit auch einflussreichsten Mitgliedstaaten. Das könnte die EU stärker verändern, als ihr lieb ist, außerdem sehr viel kosten und Entscheidungen noch mehr erschweren.
Die Türkei hat ein bis heute ungelöstes Minderheitenproblem mit den Kurden, die zudem nicht nur auf türkischem Boden leben, sondern auch in Irak und Syrien. Die Kurden fühlen sich unterdrückt und wünschen sich einen eigenen, autonomen Kurdenstaat. Diese Problematik würde in die EU hineingetragen.
Die Türkei ist bereits NATO -Mitglied, aus sicherheitspolitischen Gründen braucht man sie nicht auch noch als Mitglied in der EU .
    Als die Protestwelle gegen die Regierung Erdogan im Juni 2013 ihren Anfang nahm, sagte der türkische Staatspräsident Abdullah Gül einen sehr markanten Satz: »Demokratie bedeutet nicht nur, Wahlen zu haben.« Abgesehen davon, dass sich Gül damit von

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