Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
etwas nicht stimmen konnte. Auch wenn solche Geschichten erst viel später herauskamen, hatten die Menschen in Europa in dieser Zeit selbst auch das »Bauchgefühl«, dass es Irrsinn ist, auf einem Kontinent zu leben, der mit Atomraketen so vollgespickt ist wie ein Nadelkissen. Ein hochgefährliches »Gleichgewicht« also, ganz abgesehen von den vielen Nebenkriegsschauplätzen, auf denen sich die Supermächte indirekt mit konventionellen (nicht-atomaren) Waffen »austobten«.
Besser in einer Allianz sein oder neutral bleiben?
Damit nicht jeder Einzelne bis an die Zähne bewaffnet sein muss, um sich zu verteidigen, liegt es nahe, sich mit anderen zu verbünden, also Allianzen zu schmieden. Vor allem, wenn zur Allianz ein besonders starker Verbündeter gehört, unter dessen Schutzschirm man kriechen kann. 1949 gründeten die USA , Großbritannien, Frankreich, Belgien, Dänemark, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Portugal die NATO (für North Atlantic Treaty Organization, deutsch: Nordatlantikvertrag-Organisation). 1955 trat auch Westdeutschland bei. Für den Fall des bewaffneten Angriffs auf eines der Mitglieder sieht der Vertrag eine kollektive Selbstverteidigung durch die übrigen Mitgliedstaaten vor. Also alle für einen. Wer einen von uns angreift, greift automatisch uns alle an. Das östliche Gegenstück dazu war der »Warschauer Pakt«.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen etliche ehemalige Ostblockstaaten zur NATO hinzu (u. a. Tschechien, Polen, Ungarn, Kroatien, Albanien). Russland ist allerdings nicht der NATO beigetreten und sieht sich durchaus provoziert durch ein Bündnis, das bis an seine Landesgrenzen heranreicht.
Statt einer Allianz beizutreten, kann man sich zu einem neutralen Staat erklären, auf eine große Armee verzichten, allen zeigen, wie friedlich man ist, und sich aus allen Streitigkeiten heraushalten. Auf den ersten Blick verlockend – doch das hat sich in der Geschichte als ziemlich aussichtslos erwiesen. Neutralität kann man sich nur leisten, wenn man sehr sicher ist, dass man von niemandem überfallen wird. Wie die kleine Schweiz zum Beispiel. Aber das funktioniert nur deshalb, weil alle es nützlich fanden, dass es auf der Welt wenigstens einen hübschen, sauberen Platz in zentraler Lage gibt, an dem man Reichtümer lagern und notfalls ins Asyl flüchten kann. Die Schweiz liegt günstig, sie war wegen der vielen Berge in früheren Jahrhunderten eher schwer zu erobern und hat deshalb in ihrer Geschichte nicht die vielen leidvollen Kriegserfahrungen anderer europäischer Staaten machen müssen.
Heutzutage wäre sie natürlich trotzdem leicht zu erobern. Aber wozu? Sie hat keine nennenswerten Bodenschätze. Ihre Banken sind hilfreich für alle Bösewichte dieser Welt. Und außerdem ist die Schweiz auch ein Trittbrettfahrer: Sie hat sich bei aller Neutralität insgeheim natürlich darauf verlassen, dass irgendwer ihr zu Hilfe kommen würde. Im Zweifelsfall die NATO , schließlich liegt die Schweiz mitten in Europa, da hätte man nicht einfach die Russen einmarschieren lassen. Insofern konnte die Schweiz ihre Neutralität unbesorgt pflegen. Für alle anderen gilt: Besser, man kann mögliche Angreifer abschrecken.
Die Welt ist nicht friedlicher geworden
Mittlerweile ist der Ostblock zerfallen. Mit Michail Gorbatschow begann Ende der Achtziger die Politik von »Perestroika« (Umbau) und »Glasnost« (Offenheit). Er erlaubte der eigenen Bevölkerung mehr Freiheiten und war an einer Entspannung des Verhältnisses zum Westen interessiert. Seine Politik der Öffnung erwuchs nicht nur aus Überzeugung, sondern auch weil er merkte, dass er sich die riesigen Militärausgaben nicht mehr leisten konnte. Der Afghanistan-Krieg hatte die Sowjetunion erschöpft. Das teure Wettrüsten gegen den Westen konnte sie mit dem unterlegenen sozialistischen Wirtschaftsmodell kaum noch finanzieren; sie war beinah bankrott. Am Ende dieser Entwicklung standen radikale Abrüstungsverträge, die Moskau und Washington unterschrieben, und schließlich die deutsche Wiedervereinigung und das Ende der Sowjetunion.
Danach begann in den Neunzigern eine Zeit der Entspannung, in der sich eigentlich alle rundum ziemlich gut verstanden. Manche meinten schon, von nun an werde die Welt für immer friedlicher sein, und es würde keine großen Konflikte mehr geben. Es war zwischenzeitig sogar von einem »Ende der Geschichte« die Rede. Doch die Geschichte ist
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