Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
israelische Verhaltensweisen in Frage zu stellen. Es geht um eine Grundsolidarität mit dem Staat Israel als solchem, nicht um Kritikverbote, die niemand verhängt hat. Die Israelis selbst jedenfalls nicht. Sie sind im Gegenteil eher ziemlich »robust« in ihrer Diskussionskultur, was vielen Deutschen jedoch nicht so bewusst ist, weil sie eher selten mit Israelis zusammentreffen. Die hiesigen Debatten werden überwiegend unter (christlichen und jüdischen) Deutschen geführt und das meist im »politischen Raum«, und damit unter dem Radar der political correctness, unter dem jedes Wort sorgfältig abgewogen sein sollte.
Wer hingegen mit Israelis, die selbst in der Region leben, über den Nahost-Konflikt diskutiert, kann eine überraschend große Offenheit erfahren und bemerkt auch gewaltige Meinungsunterschiede in der Bevölkerung und in der israelischen Politik. Selbst sogenannte »Hardliner« reagieren im direkten Gespräch durchaus entspannt auf kritische Fragen. Sie parieren sie scharf, aber sie halten es keineswegs für einen Tabubruch, dass man sich als Deutscher solche Fragen zu stellen wagt. Insofern sollte auch hierzulande nicht der Eindruck erweckt werden, es gebe Denk- und Meinungsverbote, sobald es um Israel geht, und es sei dann irgendwie mutig oder progressiv, dagegen zu »verstoßen« und den Israelis jetzt mal so richtig den Marsch zu blasen. Den blasen sie sich schon selbst. Israel ist ein demokratisches Land mit Streitkultur, das einzige wirklich demokratische und liberale Land im gesamten Nahen Osten. Über Friedenspolitik und Palästinenserfrage wird in Israel selbst heftig debattiert.
Was allerdings wahr ist: Deutschland hat eine besondere Verantwortung gegenüber dem Staat Israel. Es ist für uns nicht angenehm, immer wieder auf den Holocaust hingewiesen zu werden, das Ganze ist so schrecklich und unfassbar, dass man es gerne vergessen würde – haben die Großeltern gemacht, weshalb sollten wir uns noch schuldig fühlen? So denken inzwischen leider viele, doch sie denken falsch. Eine Nation, die sechs Millionen Juden vernichtet hat, kann nicht wenige Jahrzehnte später so tun, als sei das ein Fall fürs Geschichtsbuch, und der jüdische Staat habe heute keine besonderen Ansprüche mehr gegenüber Deutschland. Nicht nur weil immer noch Täter und Opfer leben, es sich also keineswegs um ferne Historie handelt, sondern weil die Folgen bis heute so gravierend sind. Das ist damit gemeint, wenn es heißt, der Schutz Israels sei »deutsche Staatsräson« (also ein nicht in Frage stehendes Handlungsprinzip).
Denn natürlich geht die Gründung des Staates Israel auf die Erfahrung des Holocaust zurück. Eine religiöse Minderheit, die über Jahrhunderte ausgegrenzt und verfolgt wurde und schließlich die Erfahrung einer industriellen Vernichtung gemacht hat, musste sich fragen, wie sie selbst für ihre Sicherheit sorgen kann. Wo sie einen Ort findet, an dem sie sich selbst verteidigen kann, anstatt auf duldende Regierungen angewiesen zu sein oder auf Nachbarn, die einen im Notfall verstecken.
Bis zur Gründung des Staates Israel waren die Juden immer nur religiöse Minderheiten in den Ländern, in denen sie als Staatsbürger lebten. Deutsche Juden wurden von ihren eigenen Landsleuten verfolgt. Es lag nahe, daraus den Schluss zu ziehen, dass es gefährlich ist, nur einer Religionsgemeinschaft anzugehören, und dass es sicherer wäre, auch eine damit einhergehende eigene Nationalität zu haben. Also nicht mehr nur deutscher, polnischer oder holländischer Jude zu sein, sondern ein Israeli. Mit eigenem Staatsgebiet und eigener Armee.
Streit ums Heilige Land
Genauso nahe lag es, dass dieses Staatsgebiet im Heiligen Land liegen würde, dort, wo schon die Bibel das Volk Israels verortete. Städte wie Bethlehem, Jerusalem oder Nazareth sind aber nicht nur den Juden, sondern auch Christen und Muslimen heilig. Jerusalem hat für alle drei Religionen eine gleichermaßen herausragende Bedeutung. Deshalb ist dieser Streit um Land zugleich ein Streit zwischen Religionszugehörigkeiten, und das macht die ganze Sache noch komplizierter.
In den späten dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, mit Beginn der Judenverfolgung in Deutschland, zogen immer mehr Juden nach Israel, in das »gelobte Land ihrer Väter«. Schon in der Antike hatte es jüdische Königreiche auf dem Gebiet des heutigen Israels gegeben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen die Überlebenden der Konzentrationslager hinzu. Aber auch
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