Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
etwa wenn er sagte: »Je freier die Wirtschaft, um so sozialer ist sie auch«, denn dann geht es allen wirtschaftlich gut. Will heißen: Geht es den Unternehmern gut, geht es auch ihren Arbeitern gut. In den fünfziger und sechziger Jahren konnte man das noch so sagen. Heute ist das längst nicht mehr so einfach. Im Gegenteil: Häufig geht es Firmen gerade dann besser, wenn es den Mitarbeitern schlechter geht, weil viele entlassen werden oder auf Lohn verzichten. Erhard ging es vor allem um freien Wettbewerb, also um die Verhinderung von Monopolen und anderen Vorteilsnahmen – und um die Entwicklung von Wohlstand in breiten Bevölkerungsschichten, sodass möglichst viele Bürger über Vermögen beziehungsweise Eigentum verfügen und nicht nur einige wenige. Stabiles Geld war ihm deshalb besonders wichtig vor dem Hintergrund der Erfahrung, wie verheerend eine große Inflation Wohlstand vernichtet.
Wichtig ist nicht nur, was der Staat tut, sondern auch wie
Zur Sozialen Marktwirtschaft gehören auch die sogenannten Sozialstandards. Das heißt zum Beispiel, dass in Deutschland Kinderarbeit gesetzlich verboten ist. Oder dass die Belegschaft einer Firma ab einer bestimmten Zahl von Beschäftigten das Recht hat, einen Betriebsrat zu gründen, der die Interessen der Arbeiter gegenüber den Unternehmern vertritt. Oder dass die Arbeitnehmer keinen Gefahren ausgesetzt werden dürfen bei ihrer Arbeit (zum Beispiel durch Übermüdung beim Lkw -Fahren). Oder dass Schwangere ein Recht darauf haben, sechs Wochen vor dem Geburtstermin zu Hause zu bleiben, und dass man ihnen nicht kündigen darf. All das »behindert« natürlich das freie Unternehmertum. Aber die Gesellschaft will es so.
Erst im Laufe der Zeit meinte man mit Sozialer Marktwirtschaft auch einen Staat, der aktiv Sozialpolitik betreibt, in vieler Hinsicht in die Wirtschaft eingreift und sich vor allem intensiv um jene kümmert, die in den Unternehmen keine Arbeit finden. Der Begriff meint heute etwas anderes als das, was Ludwig Erhard ursprünglich darunter verstanden hatte. Ihm wäre nämlich unsere Soziale Marktwirtschaft heute längst nicht mehr frei genug.
Doch nicht nur soziale Überlegungen führen dazu, dass der Staat in den Markt eingreift. Es gibt auch Fälle, bei denen der freie Markt sowieso nicht funktioniert. Dann spricht man von Marktversagen. Zum Beispiel beim Umweltschutz. Die Nutzung der Umwelt hat von Natur aus keinen Preis, weil sie zunächst allen gehört und von allen gleichzeitig genutzt werden kann. Einen Apfel kann nur einer essen, doch alle können saubere Luft atmen, davon kann man niemanden ausschließen. Deshalb ist auch niemand von sich aus bereit, dafür zu zahlen. Es bildet sich für dieses freie Gut also kein Preis, kein Markt. Das bedeutet umgekehrt auch, dass jeder die Luft verpesten kann, ohne dafür bezahlen zu müssen (zum Beispiel beim Autofahren). Wenn man will, dass die Luft sauber bleibt, muss man dafür sorgen, dass das Verpesten der Luft verboten wird oder dass es Geld kostet. So etwas muss der Staat regeln, denn wer sollte es sonst tun?
Wichtig ist dabei allerdings nicht nur, was der Staat tut, etwa im Sozialbereich, sondern auch, wie er es tut. Ein Beispiel: Eine Familie hat schon zwei Kinder und bekommt nun noch Zwillinge. Die alte Wohnung ist zu klein, aber das Geld reicht nicht für eine größere. Der Staat könnte nun vorschreiben, dass die Mieten gesenkt werden müssen, damit sich alle Familien größere Wohnungen leisten könnten. Dann würden die Vermieter aber weniger verdienen und bestimmt keine neuen Häuser bauen – Wohnungsmangel wäre bald die Folge. Zahlt der Staat hingegen der Familie einen Zuschuss (Wohngeld genannt), kann sie ebenfalls in eine größere Wohnung ziehen; aber in diesem Fall verdient der Vermieter und ist daher motiviert, die Bude vielleicht mal zu renovieren oder noch ein zweites Haus zu bauen, mit dem er wiederum Geld verdienen kann (was Arbeitsplätze für Bauarbeiter schafft und wieder neue Wohnungen).
Man nennt das eine »marktkonforme Maßnahme«: Die staatliche Hilfe setzt die Spielregeln des freien Marktes nicht durch Verbote oder Anweisungen außer Kraft, sondern soll sie nutzen und fördern. Der Staat stellt also zum Beispiel keine eigenen staatlichen Wohnungen zur Verfügung, in die jemand einziehen muss, wenn er sich die Mieten auf dem freien Markt nicht leisten kann, sondern zahlt Wohngeld. So kann jeder frei wählen, wohin er zieht, und die Wohnungsvermieter verdienen auch
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