Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
Vom Netzwerk:
Spuren – auch im Gesicht. Die Fotografin Herlinde Koelbl hat diese »Spuren der Macht« 1 beeindruckend dokumentiert. Sie begleitete Politiker wie Schröder, Fischer und Merkel über acht Jahre hinweg und machte immer wieder Porträtfotos von ihnen – als sie noch ziemlich am Anfang standen, unterhalb der Todeszone sozusagen, und dann ein paar Jahre später, als sie auf dem Gipfel angekommen waren. In dieser Zeit hatten sich bei allen tiefe Falten ins Gesicht gegraben, tiefer als bei anderen Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum. Spitzenpolitiker altern offenbar im Zeitraffer. Besonders bei Bundeskanzler Schröder war das auffällig: »Von der Jugendlichkeit, vom offenen Gesicht des ersten Porträts wurde er maskenhafter, die Augen wurden stumpfer. Im Jahr der Bundestagswahl wurde sein Gesicht ganz hart. Man sah ganz deutlich die Spuren des Kampfes«, erinnert sich Herlinde Koelbl. Und wieder hat es Joschka Fischer besonders drastisch ausgedrückt. Zur Fotografin Koelbl sagte er: »Politiker, das sind die Menschen mit den schmalen Lippen. Weil man so viel wegstecken muss. Runterschlucken muss.« Zwischenzeitlich sah er auch selbst ziemlich schmallippig aus.
    An der Spitze ist man außerdem ziemlich einsam. Dort gibt es nur noch wenige, denen man vertrauen kann und die auch auf dem Weg nach unten noch bei einem bleiben. Politische Freundschaften sind eher Zweckgemeinschaften. Und Politiker gegnerischer Parteien können erst recht brutal sein. Angela Merkel bekannte gegenüber der Fotografin Koelbl, dass sie nicht mehr so offen sei wie früher. Angesichts dieser Bekenntnisse fragt man sich natürlich: Wenn es so hart und einsam ist da oben – warum wollen dann trotzdem so viele dahin? Das ist ein bisschen so, als würde man einen Leistungssportler fragen, warum er sich jeden Tag schindet. Jeden Tag bis zur Schmerzgrenze trainieren, statt in der Freizeit rumzugammeln oder ins Kino zu gehen – was für ein furchtbar diszipliniertes Leben! Doch es scheint sich ja sehr zu lohnen: für die berauschend befriedigenden Augenblicke des Sieges, für die Begeisterung an der eigenen Leistungsfähigkeit, die Selbstbestätigung, den Applaus und die Anerkennung, für die intensiven, extremen Gefühle, wenn man die Goldmedaille vor Augen hat. Das ist bei Spitzenpolitikern ähnlich – und keineswegs verwerflich. Man darf ihnen auch unterstellen, dass sie alle als junge Politiker aus Überzeugung und Idealismus angefangen haben. Später kam das Gefühl hinzu, selbst besonders geeignet zu sein, die eigenen Überzeugungen umzusetzen – zum Wohle aller. Dafür aber muss man Macht gewinnen. Und an dieser Stelle setzt eine eigentümliche Dynamik ein: Am Ende kann es nämlich passieren, dass es gar nicht mehr so sehr um Überzeugungen geht, sondern nur noch um die Macht als solche. Um das Gewinnenwollen und darum, im Konkurrenzkampf gegen andere zu bestehen, sich nicht wegschubsen zu lassen. Und es geht um die eigene Person und die mit der Öffentlichkeit verbundene Zuwendung.
    Der Ehrliche ist der Dumme
    Dass es ihm nur um die eigene Macht ginge, dafür wurde zum Beispiel 2012 der CDU -Politiker Norbert Röttgen kritisiert. Er war Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, gab aber zu, im Fall einer Niederlage nicht Oppositionsführer im Landtag werden, sondern sein damaliges Amt als Bundesumweltminister in Berlin behalten zu wollen. Das ist durchaus nachvollziehbar, schließlich wäre für einen Politiker, der es in der Bundespolitik schon so weit nach oben geschafft hat, ein solcher Karriereknick ziemlich bitter gewesen. Plötzlich machtlos in Düsseldorf statt Bundesminister in Berlin. Und ob das für seine Partei so gut gewesen wäre, kann man ebenfalls in Frage stellen. So wahnsinnig viele prominente Spitzenleute hat die CDU im Bund nun auch wieder nicht, und Röttgen galt sogar als potenzieller Kanzlerkandidat. Aber das unverhohlene Karrierestreben wurde ihm heftig zum Vorwurf gemacht: Wenn Röttgen sich wirklich für NRW interessierte, würde er auch als Verlierer kommen, wo bleiben denn sonst die Überzeugungen! Er sah das anders und formulierte ungeschickt: »Ich meine, ich müsste eigentlich dann Ministerpräsident werden, aber bedauerlicherweise entscheidet nicht allein die CDU darüber, sondern die Wähler entscheiden darüber.« Er gab also schon vor der Wahl zu, dass ihm nicht nur das Land Nordrhein-Westfalen, sondern auch die eigene Karriere am Herzen lag. Schwerer Fehler. Er verlor die

Weitere Kostenlose Bücher