Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
Gemeinde besonders beliebt ist. In der Praxis ist das aber eher Theorie. Auf dem Land kennt man die Abgeordneten vielleicht noch persönlich, in größeren Ortschaften oder Städten eher nicht. Deshalb machen viele Wähler auch bei der Erststimme ihr Kreuz der Einfachheit halber nach der jeweiligen Partei, obwohl sie ja mit der Erststimme eigentlich eine Person wählen. Das deutsche Wahlrecht wird auch als »personalisiertes Verhältniswahlrecht« bezeichnet. Weil mit der Erststimme Personen gewählt werden und die Zweitstimme die politischen Verhältnisse möglichst genau abbilden soll. Für die Verteilung der Machtverhältnisse auf Bundesebene (für ganz Deutschland) ist also die Zweitstimme wichtiger. Das ist die sogenannte »Kanzlerstimme«. Die Zahl der Zweitstimmen entscheidet letztlich, wie viele Abgeordnete eine Partei in den Bundestag schicken darf, um dort den Bundeskanzler zu wählen. Das Zweitstimmenergebnis kommt am Wahlabend in den Nachrichten, also: 38 Prozent für Partei X , 15 Prozent für Partei Y usw. Die Sitzverteilung im Bundestag soll diese Prozentzahlen möglichst genau widerspiegeln. Dafür werden die noch freien Plätze mit Politikern aufgefüllt, die von den Parteien im Voraus dafür bestimmt wurden. Das sind Politiker, die keinen Wahlkreis gewonnen haben, sondern über die sogenannten Listen in den Bundestag ziehen. Wichtige Kandidaten werden auf diesen »Listen« mit einem der vorderen Plätze abgesichert, damit sie es auf jeden Fall in den Bundestag schaffen, auch wenn sie ihren Wahlkreis nicht gewinnen. Ohne die Zweitstimme hätten kleinere Parteien kaum eine Chance, weil sie selten ganze Wahlkreise erobern.
Welche Stimme ist wirklich wichtig?
Konkret könnte das Ergebnis am Ende so aussehen: Wenn eine Partei mit den Erststimmen vier Direktmandate gewinnt, dann ziehen diese vier Abgeordneten auf jeden Fall in den Bundestag ein. Hat sie außerdem bundesweit zum Beispiel 10 Prozent der Zweitstimmen, darf sie noch weitere 56 Abgeordnete benennen. Denn im Bundestag gibt es derzeit mindestens 598 Sitze; 10 Prozent davon sind – gerundet – 60 Sitze, von denen vier ja schon über die Erststimmen besetzt sind.
Besonders wichtig ist die Erststimme nur in zwei Fällen:
Eine Partei hat mit der Erststimme mehr direkte Sitze gewonnen, als ihre Zweitstimmen-Prozente eigentlich zulassen. Dann bekommt sie alle diese Sitze als sogenannte »Überhangmandate«. Dafür werden dann tatsächlich ein paar Extrastühle im Bundestag aufgestellt.
Und: Eine Partei hat bundesweit zwar weniger als 5 Prozent der Stimmen bekommen, einer ihrer Politiker hat es aber erstaunlicherweise geschafft, seinen Wahlkreis zu gewinnen – die kommen dann auch rein. Gewählt ist gewählt! Das war zum Beispiel von 2002 bis 2005 so, als die beiden ostdeutschen PDS -Abgeordneten Petra Pau und Gesine Lötzsch im Bundestag saßen. Allerdings ganz hinten, auf den schlechtesten Plätzen.
Damit nicht ein Haufen Splitterparteien mit jeweils ein bis zwei Abgeordneten für Unruhe sorgt, hat man die 5-Prozent-Hürde eingeführt. Listenplätze per Zweitstimme gibt es erst ab 5 Prozent der Stimmen. Natürlich gibt es auch Kritiker dieser Regel, aber das Ziel der Wahlvorschriften ist:
(a) die politischen Bedürfnisse des Volkes so genau wie möglich abzubilden und gleichzeitig
(b) eine möglichst handlungsfähige Regierung zu bilden.
Das sind jedoch meistens entgegengesetzte Ziele. In anderen Ländern, zum Beispiel in den USA , arbeitet man daher mit dem Mehrheitswahlrecht: Wenn eine Partei mehr Stimmen hat als die andere, dann stellt sie allein die Regierung und kann mehr oder weniger machen, was sie will. Mit dem Mehrheitswahlrecht haben in der Regel nur (zwei) große Parteien eine Chance, ins Parlament zu kommen. Das hat den Vorteil, dass weniger Kompromisse ausgehandelt werden müssen. Man muss keine Koalitionen bilden, und nach der Wahl ist sofort klar, wer gewonnen hat und regieren wird: Partei A oder Partei B. Nachteil: Wenn Partei A nur ganz knapp gewinnt, dann kann sie unangefochten regieren, obwohl fast die Hälfte der Wähler sie gar nicht wollte. Der Wahlsieg gibt also nicht die Meinung des ganzen Volkes wieder. Deshalb betonen amerikanische Präsidenten in ihren Antrittsreden immer so gern, dass sie die Präsidenten aller Bürger seien – weil sie genau das nicht sind, es aber gern wären und auch eigentlich sein sollen.
Unser Wahlsystem ist anstrengend, aber gerecht
Viele Menschen fühlen sich beim Mehrheitswahlrecht
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