Kap der Finsternis: Roman (German Edition)
Vater. Er hatte angefangen, in das Zimmer zu kommen, das sie mit ihren beiden kleinen Brüdern teilte, als sie sieben war. Unmöglich, dass ihre Mutter in diesem winzigen Haus davon nichts mitbekommen hätte. Mit elf war Carmen das erste Mal schwanger geworden.
Ihre Mutter hatte sie geschlagen, hatte sie eine Hure genannt und war mit ihr zur Klinik gegangen. Ihre Mutter hatte nie auch nur ein einziges Wort zu ihrem Vater gesagt, hatte Carmen einfach nur still gehasst. Als Carmen ein Jahr später wieder schwanger wurde, warf ihre Mutter sie aus dem Haus, und Carmen ging allein zur Klinik.
Mit fünfzehn trug sie das Kind von Bobby Herold, einem Burschen aus dem Viertel. An dem Tag, als sie zum dritten Abbruch in die Klinik ging, traten die Mongrels Bobby vor ihren Augen zu Tode.
Dann traf sie Ricardo Fortune, und es passierte wieder.
Erstaunlicherweise hatte er sie geheiratet. Der magere kleine Dreckskerl stolzierte herum wie ein König, Carmen und ihr praller Bauch wie eine Trophäe an seiner Seite. Dann war Sheldon auf die Welt gekommen, und kurz darauf begann das Prügeln.
Carmen machte Frühstück. Onkel Fatty schleppte sich vom Sofa, lief in seiner fleckigen Unterhose durch die Wohnung. Sie knallte ihm einen Teller mit gebackenen Bohnen und Ei vor die Nase.
»Du solltest dich heute mal waschen. Dein Arsch stinkt.«
Er sagte nichts, stocherte nur im Essen. Sein giftdurchtränkter Körper kam erst mit dem Drink nach dem Frühstück richtig in Gang.
Carmen fütterte Sheldon. Sie brachte es im Moment nicht fertig, ihm die Windeln zu wechseln. Er würde den Unterschied sowieso nicht bemerken. Der Nachteil von Rikkis Abwesenheit bestand darin, dass es kein Tik gab, mit dessen Hilfe der Tag etwas erträglicher wurde. Sie würde losziehen und sich einen Freier suchen müssen.
Sie wusch sich und zog ihre beste Jeans und Bluse an. Sie versuchte, die widerspenstigen Haare mit einer verstopften Bürste zu bändigen, und verfluchte Gatsby dafür, dass er ihren Spiegel zerbrochen hatte. Fetter scheiß Bure.
Als sie das Klopfen an der Tür hörte, nahm sie an, es wäre einer von Rikkis nichtsnutzigen Kumpeln. Sie riss die Tür auf und war drauf und dran, eine Tirade loszulassen, als sie Belinda Titus erkannte, die Sozialarbeiterin, die mit Sheldons Fall betraut war. Normalerweise trafen sie sich auf dem Sozialamt, wenn Carmen einmal monatlich hinging, um die Unterstützung für Sheldon abzuholen.
»Ich bin hier, weil ich nach Ihrem Sohn sehen möchte, Mrs. Fortune.«
»Sie haben nicht angerufen oder so.« Carmen versperrte die Tür.
»Das soll ja auch so sein bei einer außerplanmäßigen Überprüfung, Mrs. Fortune. Bitte, lassen Sie mich rein.«
Carmen trat einen Schritt zurück.
Belinda Titus war nur ein paar Jahre älter als Carmen, stammte ebenfalls von den Flats, gab sich aber so, als sei sie etwas Besseres.
»Die Alte glaubt, sie scheißt Eiscreme«, hatte Carmen sie bei einer ihrer seltenen Unterhaltungen mit Rikki beschrieben. Die Sozialarbeiterin vermittelte Carmen durch ihr Auftreten und die Blicke, mit denen sie sie taxierte, das Gefühl, nur Abfall zu sein.
Belinda Titus schaute sich mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck in der schäbigen Wohnung um. In dem Moment kam Onkel Fatty aus dem Bad, er trug immer noch nichts anderes als seine schmutzige Unterhose. Er sah die beiden Frauen an, setzte sich aufs Sofa und starrte ins Leere.
Die Sozialarbeiterin trat an das Kinderbettchen, in dem Sheldon lag. Sie schob die Decke beiseite und verzog das Gesicht. Sie schaute zu Carmen auf.
»Mrs. Fortune, dieses Kind befindet sich in einem entsetzlichen Zustand.«
»Ich wollte ihm gerade die Windeln wechseln.«
»Das ist ja noch das Wenigste. Ohne ihn näher zu untersuchen, sehe ich, dass er sich wund gelegen hat. Und sehen Sie sich das Bettzeug an, das ist ja furchtbar.«
Carmen spürte, wie sie errötete, spürte den Zorn in sich aufsteigen. Sie kämpfte darum, nicht die Fassung zu verlieren. »Ich hab’s doch gerade gesagt. Ich war gerade dabei, ihn sauber zu machen und seine Windeln zu wechseln.«
»Ich kann dieses Kind unmöglich in diesen entsetzlichen Verhältnissen lassen.« Belinda Titus griff nach ihrem Telefon.
»Was sagen Sie da?«, fragte Carmen.
»Ich sage, dass Kollegen von mir kommen und ihn abholen und an einen sicheren Ort bringen werden. Wo man sich angemessen um ihn kümmern wird.«
»Das können Sie nicht machen!«
»Und ob ich das kann, Mrs. Fortune. Und falls Sie versuchen, uns
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