Kaperfahrt
Abermals holte die Lawine sie ein, und wieder saß Juan auf dem Mann, als ritte er auf einem Baumstamm in einer Holzrinne. Nicht allzu weit entfernt konnte er verfolgen, wie sich die Geröllmassen über den Felsvorsprung ergossen, den er vom Rand der Schlucht aus entdeckt hatte. Er blickte den Abhang hinauf. Hinter dem Strom aus Geröll und Sand folgten mächtige Felsbrocken, die von der Lawine mitgerissen wurden und schlichtweg dem Gesetz der Schwerkraft gehorchten. Es war, als blickte er in den Rachen einer industriellen Häckselmaschine. Die Felsbrocken krachten und polterten gegeneinander und zerrieben sich auf ihrem Weg in die Tiefe gegenseitig zu Staub.
Er blickte wieder bergab. Die Lawine ergoss sich in einem Bogen etwa drei Meter weit durch die Luft, ehe sie auf die Erde hinabstürzte. Wäre es Wasser gewesen, Juan hätte gute Chancen gehabt, über die Felskante gespült zu werden und sich auf dem Grund schwimmend ans Ufer zu retten. Aber nicht in diesem Fall.
Cabrillo bohrte seine Prothese in den Geröllstrom, grub sich selbst hinein, bis er festen Untergrund spürte. Sekunden bevor er und der Araber in den Abgrund stürzten, stieß er sich mit aller Kraft ab und verließ die Leiche des Terroristen in einem verzweifelten Sprung, der ihn an den Rand der Lawine katapultierte.
Auf allen vieren kämpfte er sich nun bergauf und widersetzte sich verzweifelt dem Sog der Geröllmassen, die unter ihm davonschossen. Es war, als wäre er in einer rasenden Tretmühle gefangen. Unmöglich konnte er so an Boden gewinnen. Der Erdrutsch war viel zu schnell. Er konnte nur hoffen, sich ein paar wertvolle Sekunden zu erkämpfen, während er sich in dem nahezu aussichtslosen Bemühen, dem Erdrutsch und seiner vernichtenden Kraft zu entgehen, an der Grabenwand aufwärtsschob, bevor er über die Felskante getragen wurde.
Bis dorthin waren es kaum noch drei Meter, doch er befand sich noch immer im Randbereich der Lawine. Seine mittlerweile blutigen Finger gruben sich mit maschinengleicher Beharrlichkeit durch Sand und Steine – und seine Beine wirbelten mit jedem Strampeln neue Staubwolken hoch. Doch es reichte nicht aus. Viel zu weit war er vom Rand des Geröllstroms entfernt, um sich auf festen Grund zu retten.
Kapitulieren kam für ihn allerdings nicht in Frage, und so machte er einen letzten Versuch. Im gleichen Moment, als der Geröllstrom die zerschmetterten Überreste seines unglücklichen Gefährten verschlang, hatten seine Finger Grundberührung. Cabrillo suchte nach festem Halt, da ergriffen seine Hände etwas Hartes und Rundes. Weil er keine andere Wahl hatte, umklammerte er es mit der linken Hand und warf sich herum, während sich auch seine rechte Hand darum legte.
Er wusste, dass die erste Regel beim Bergsteigen besagte, sich niemals irgendwelcher Vegetation anzuvertrauen. Sie konnte doch jeden Moment und ohne irgendeine Vorwarnung nachgeben. Aber in Ermangelung jeglicher sinnvoller Alternative klammerte er sich an die Wurzel eines verkrüppelten und von der Sonne völlig ausgedörrten Baums.
Fast im gleichen Augenblick begann sich die Wurzel aus dem Erdreich zu lösen, als hätte er das Ende eines Seils gefasst, das lediglich von einer dünnen Sandschicht bedeckt gewesen war. Obgleich er sich bis auf seine Füße aus dem Erdrutsch befreit hatte, verließ er sich nun voll und ganz auf die Wurzel. Und je mehr ihrer unterirdischen Verbindungen nachgaben, desto näher kam er nun der Kante des Felsvorsprungs.
Erst rutschten seine Beine über diese Kante, dann seine Hüften. Er hielt sich mit aller Kraft an der Wurzel fest, während nur wenige Zentimeter entfernt ein Sturzbach aus Sand und Steinen an seiner Schulter vorbeirauschte. Sein Sturz wurde für einen Moment gestoppt, und er versuchte sich nach oben zu ziehen, wobei er spürte, wie weitere Wurzelstränge unter der Belastung nachgaben und zerrissen. Er rutschte vollständig über den Klippenrand und hing im Freien. Kurz bevor er über die Kante glitt, bekam er noch flüchtig mit, dass die ganze Wand aus Felsbrocken und Steinen in wenigen Sekunden in die Tiefe stürzen würde.
Also zwang er sich, an der Felswand nach rechts zu kriechen, wobei sein Kopf und seine Schultern vom Geröll überschüttet wurden, um den Winkel zwischen sich und der Stelle zu vergrößern, wo die Wurzel in der Seitenwand der Rinne verankert war. Dann rannte er an der Felswand entlang zurück, bevor sich die schweren Felsbrocken darauf ergossen. Er tauchte aus dem Erdrutsch auf,
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