Kapitaen Bykow
Himmel und dachte bei mir, dass es wahrscheinlich regnen würde. Von dieser ersten Lektion über Wahrscheinlichkeitstheorie habe ich nur den halbvertrauten Begriff »mathematischer Erwartungswert« behalten. Der Fremde benutzte ihn mehrfach, und jedes Mal stellte ich mir einen großen Raum vor, so eine Art Wartesaal mit gefliestem Boden, wo Leute mit Aktentaschen und Schreibmappen saßen, von Zeit zu Zeit Münzen und Butterbrote emporwarfen und voller Konzentration auf irgendetwas warteten. Noch heute sehe ich das oft im Traum. In dem Augenblick jedoch schockierte mich der Fremde mit dem klangvollen Terminus »Moivre-Laplacesches Grenztheorem« und sagte, all das gehöre überhaupt nicht zur Sache.
»Wissen Sie, ich wollte eigentlich etwas ganz anderes erzählen«, sagte er mit einer Stimme, aus der mit einem Mal alle Lebendigkeit gewichen war.
»Entschuldigen Sie, Sie sind sicherlich Mathematiker?«, erkundigte ich mich.
»Nein«, antwortete er trübsinnig. »Was sollte ich für ein Mathematiker sein? Ich bin eine Fluktuation.«
Aus Höflichkeit schwieg ich.
»Ach ja, ich hab Ihnen ja wohl immer noch nicht meine Geschichte erzählt«, erinnerte er sich.
»Sie sprachen von Butterbroten«, sagte ich.
»Zuerst, wissen Sie, fiel das meinem Onkel auf«, fuhr er fort. »Ich war nämlich zerstreut und ließ oft die Schnitten fallen. Und jedes Mal fielen sie mit der Butter zuoberst.«
»Ist doch gut«, meinte ich.
Er seufzte voll Bitterkeit. »Gut ist es, wenn das ab und zu passiert ... Aber bei mir – jedes Mal! Verstehen Sie, jedes Mal!«
Ich verstand nichts und sagte ihm das.
»Mein Onkel kannte sich ein bisschen in der Mathematik aus und interessierte sich für die Wahrscheinlichkeitstheorie. Er riet mir, es mit einer Münze zu versuchen. Wir warfen sie gemeinsam. Nicht einmal da begriff ich gleich, dass ich erledigt war, aber mein Onkel begriff es. Und er sagte es mir damals auch: ›Du bist erledigt!‹«
Ich verstand noch immer nichts.
»Beim ersten Mal warf ich die Münze hundertmal, und mein Onkel auch hundertmal. Bei ihm erschien dreiundfünfzigmal das Wappen, bei mir jedoch achtundneunzigmal. Dem Onkel, wissen Sie, gingen die Augen über. Und mir auch. Danach warf ich die Münze noch zweihundertmal, und stellen Sie sich vor, das Wappen erschien einhundertsechsundneunzigmal. Mir hätte schon damals klar werden sollen, wie das enden musste. Mir hätte klar werden sollen, dass eines Tages auch der heutige Abend kommen würde!« An dieser Stelle schien es, als schluchzte er auf. »Aber damals, wissen Sie, war ich zu jung, jünger als Sie. Mir kam das alles sehr interessant vor. Ich fand es sehr lustig, mich als Brennpunkt aller Wunder der Welt zu fühlen.«
»Als was?« Ich war verwundert.
»Als ... äh ... Brennpunkt der Wunder. Ich kann kein anderes Wort dafür finden, obwohl ich es versucht habe.«
Er kam wieder etwas zur Ruhe und begann, alles der Reihe nach zu erzählen, wobei er ununterbrochen rauchte und hustete. Er erzählte ausführlich, beschrieb dabei sorgfältig alle Einzelheiten und lieferte unablässig zu allen erwähnten Ereignissen die wissenschaftlichen Grundlagen. Wenn mich nicht die Tiefe seiner Kenntnisse beeindruckte, so doch ihre Vielseitigkeit. Er überschüttete mich mit Begriffen aus der Physik, der Mathematik, der Thermodynamik und der kinetischen Gastheorie, sodass ich mich später als Erwachsener oft gewundert habe, warum mir der eine oder andere Terminus so bekannt vorkam. Des Öfteren versenkte er sich in philosophische Betrachtungen, und mitunter schien es ihm einfach an Selbstkritik zu mangeln. So bezeichnete er sich mehrere Male hochtrabend als »Phänomen«, »Naturwunder« und »gigantische Fluktuation«. Bei dieser Gelegenheit begriff ich, dass das kein Beruf war. Er eröffnete mir, dass es keine Wunder gäbe, sondern nur äußerst unwahrscheinliche Ereignisse.
»In der Natur«, sagte er nachdrücklich, »werden die wahrscheinlichsten Ereignisse am häufigsten Wirklichkeit, die unwahrscheinlichsten hingegen weitaus seltener.«
Er meinte den Entropiesatz, doch damals klang das in meinen Ohren sehr gewichtig. Anschließend versuchte er, mir die Begriffe »wahrscheinlichster Zustand« und »Fluktuation« zu erklären. Einen frappierenden Eindruck auf meine Phantasie machte dabei das bekannte Beispiel von der Luft, die sich samt und sonders in der einen Hälfte des Zimmers sammelt.
»In diesem Falle«, sagte er, »würden alle, die in der anderen Hälfte sitzen,
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