Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
Vom Netzwerk:
Dieser Geruch fiel Mary jedoch erst auf, nachdem sie im Garten eine Zigarette geraucht hatte und wieder ins Haus zurückgekehrt war. Heute war die Küche dran, ein wahrer Traum an Modernität und Komfort aus den 50er Jahren. Ihr Vater war zu geizig gewesen, um hier irgendetwas zu verändern, und ihre Mutter hatte entweder keine Notiz davon genommen oder sich nicht getraut, dagegen anzugehen. Wie dem auch sei, jedenfalls sah der Boden aus, als wäre er mit Absicht so gestaltet worden, dass er ständig dreckig wirkte; er machte nur dann einen sauberen Eindruck, wenn er unmittelbar vorher gewischt worden war. Also machte sich Mary daran, ihn zu wischen. Sie holte den Putzlappen und den Schrubber, füllte einen Eimer mit warmem Wasser und ging an die Arbeit. Das Wasser wurde grau, ebenso wie das Linoleum, aber so war das am Anfang immer. Wenn man erst mal aufgewischt hatte und der Boden anfing zu trocknen, sah es schon besser aus. Falls die Leute vom Hospiz zu spät kamen, würde sie es vielleicht noch schaffen, im Erdgeschoss schnell staubzusaugen.
    Mary nahm ihr Päckchen Marlboro Lights und das peinliche neue Plastikfeuerzeug und ging in den Garten. (Das Feuerzeug war deshalb peinlich, weil sein Kauf ein Beweis dafür war, dass sie wohl tatsächlich wieder mit dem Rauchen angefangen hatte.) Die Frühlingswärme und der Wildwuchs, den ihre Mutter im Garten erstaunlicherweise bevorzugte – aber auch der Umstand, dass sie selbst hier draußen keinen Finger gerührt hatte, seit sie im Februarhergekommen war –, verliehen der bunten Überfülle, die hier herrschte, etwas Zügelloses. Alles wucherte, brach auf, war fruchtbar. Mary schaute den Garten an, aber sie sah ihn eigentlich gar nicht. Sie hatte genug andere Dinge am Hals. Noch etwas, um das man sich hätte kümmern müssen, das wäre einfach zu viel gewesen. Das überbordende Grün drang gar nicht erst bis zu ihr vor. Sie zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, hustete und nahm dann noch einen Zug. Es würde ein warmer Tag werden. Und schwül, das konnte sie schon jetzt spüren.
    Die Leute vom Hospiz kamen pünktlich. Genau um zehn Uhr klingelte es an der Haustür. In der Zwischenzeit hatte der Boden in der Küche zu glänzen begonnen und sah perfekt aus. Mary öffnete den beiden Frauen die Tür, von denen eine unter ihrem Mantel eine Krankenschwesterntracht trug. Die andere Frau hatte sie bereits kennengelernt, als sie mit ihrer Mutter für eine erste Einschätzung ins Hospiz gegangen war. Mary schenkte ihnen Tee ein, und sie unterhielten sich eine Weile über belanglose Dinge. Die Frau, die sie schon kannte, sagte etwas Nettes über den Garten, aber Mary nahm das gar nicht richtig wahr. Dann fragte die Krankenschwester:
    »Könnten wir jetzt mal nach Ihrer Mutter schauen?«
    Mary führte sie nach oben. Die Krankenschwester und die andere Frau traten zu Petunia ans Bett. Weil es immer wieder lange Zeitspannen gab, in denen sie sich nicht bewegte, hatte Petunia am Rücken und an der Seite zahlreiche wunde Stellen. Die Krankenschwester, deren Namen Mary peinlicherweise schon wieder vergessen hatte, sah das sofort.
    »Die Ärmste, sie hat sich ziemlich schlimm wundgelegen. Kann Ihnen da nicht jemand helfen?«, fragte sie.
    »Es gibt einen Hausarzt. Beziehungsweise eine Praxis mit mehreren Ärzten. Aber für die Leute dort ist es schwer, etwas dazu zu sagen, denn sie kennen mich nicht, ich bin nur irgendeine fremde Frau, die sie anruft. Die Gemeindeschwestern sind sehr nett, sie sagen, dass sie bald vorbeikommen, und sie meinen es bestimmtauch ernst, aber manchmal ist es dann so, als wäre man in ein Loch gefallen und unsichtbar geworden. Sie können nur das sehen, was direkt vor ihnen steht, aber …«
    Es war gar nicht mal die Frage selbst, sondern der freundliche Ton, in dem sie gestellt worden war, und auch ihre eigene verzweifelte Stimme, die Mary dazu veranlassten, die Fassung zu verlieren. Noch während sie sprach, fing sie so heftig an zu weinen, dass sie sich hinsetzen musste. Die beiden Frauen vom Hospiz sahen sich an. Meine Mutter stirbt, und sie müssen sich mit mir beschäftigen, sich um mich Sorgen machen, dachte Mary, und dieser Gedanke ließ sie nur noch mehr weinen. Petunias Arztpraxis hatte sich letztendlich als vollkommen nutzlos erwiesen. Mary war etwas schockiert gewesen, als sie festgestellt hatte, dass ihre Mutter gar keinen richtigen Hausarzt mehr hatte – das hatte sich seit Marys Kindheit anscheinend grundlegend verändert.

Weitere Kostenlose Bücher