Kapital: Roman (German Edition)
kein »Ich bin nicht böse, nur enttäuscht«- oder »Ich wünschte, du würdest dein Talent nicht so verschwenden«-Gespräch, so wie er es von früher gewohnt war. Smittys Wortwahl und sein Tonfall waren deshalb so sanft und schonend, weil sein Entschluss unwiderruflich feststand. Er hatte das, was hier gerade passierte, schon öfter erlebt: den ersten echten Abschied, den ein junger Mensch von der Welt der Schule und der Universität nehmen muss. Selbst wenn man dort rebellierte, Dummheiten machte oder in Schwierigkeiten geriet, war es doch immer klar, dass sich diese ganze Erfahrung ausschließlich um einen selbst drehte. Diese jungen Leute glauben, dass es in der ganzen Welt nur um ihre Bedürfnisse geht, und das aus gutem Grund, denn die Institutionen und Autoritätspersonen, von denen sie umgeben sind, stellen in der Tat ihre Bedürfnisse über alles andere. Sie irren sich durchaus nicht, wenn sie meinen, dass sie das Zentrum des Universums sind. Sie irren sich nur dann, wenn sie glauben, dass das auch immer so bleibt. Dann treten sie in die Welt der Erwachsenen ein, und irgendwann fällt der Groschen. Du bist allen anderen egal, und meistens merkt keiner, dass du überhaupt da bist. Genau diese Offenbarung fand gerade in Smittys Atelier statt.
Parkers Gesichtsausdruck verdüsterte sich und begann zu zerbröckeln. Er sah plötzlich viel jünger aus, wie ein gemaßregelterSchuljunge. Fast hatte es den Anschein, als würde er gleich anfangen zu heulen. Seine anmaßende Haltung war wie weggeblasen. Jetzt wirkte er nur noch benommen und am Boden zerstört. Smitty war fassungslos. Er hätte zwar nicht unbedingt gewollt, dass dieser kleine Milchbart hier am Ende fröhlich zu Tür hinaushüpfte, doch genauso wenig war es seine Absicht, sich nach dem Gespräch zu fühlen, als hätte er gerade dessen Lieblingshündchen abgeknallt. Er spulte den Rest seiner vorgeplanten Rede im Schnelltempo herunter, den Teil, wo er sagte, dass sie ja vielleicht in Zukunft wieder mal zusammenarbeiten könnten. Dann gab er ihm einen Umschlag mit dem Monatsgehalt und dem Kündigungsformular für die Steuerbehörde. Mittlerweile konnte man deutlich sehen, dass in den Augen des Jungen tatsächlich Tränen standen. Er raffte seine Jacke, seine Tasche und seinen iPod zusammen – wesentlich schneller, als er gebraucht hatte, um bei seiner Ankunft alles abzulegen – und verschwand durch die Tür, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Ach du Scheiße. Gut, dass das endlich vorbei ist, dachte Smitty.
47
In der Pepys Road Nummer 42 lag Petunia Howe im Sterben. Ihr Zustand hatte sich in jeder Hinsicht drastisch verschlechtert. Ihr Bewusstseinsgrad schwankte ständig: Manchmal wusste sie, wo sie war und was mit ihr passierte, und manchmal befand sie sich im Delirium. Erinnerungen drifteten durch ihren Kopf wie Träume. Albert lebte noch und lag neben ihr, oder sie war schon tot und befand sich an einem Ort, an den er bereits vorgegangen war, um dort auf sie zu warten. Es gab auch Zeiten, in denen der Schmerz das Einzige war, was sie fühlen konnte, ein Schmerz, der so umfassend und gleichzeitig so eng mit ihr verbunden schien – wie Zahnschmerzen oder Ohrenschmerzen –, dass sie nicht wusste, wo er aufhörte und wo sie selbst begann. Petunia sprach nur noch bruchstückhaft und konnte sich ohne fremde Hilfe nicht mehr bewegen. Ihre Tochter musste ihr beistehen, wenn sie die Bettpfanne benutzen wollte.
Mary versuchte, über das, was passierte, nicht nachzudenken. Sie versuchte, sich so weit es ging mit den täglichen Anforderungen abzulenken, die die Krankheit ihrer Mutter mit sich brachte. Nur ganz selten nahm sie Abstand und versetzte sich in eine Perspektive, aus der sie diese furchtbaren Tage in ihrem ganzen Ausmaß überschauen konnte. In solchen Momenten dachte sie: Das ist die schlimmste Erfahrung meines ganzen Lebens. Meine Mutter stirbt einen schrecklichen Tod, ich bin müder als je zuvor, noch müder als damals, als die Kinder klein waren, sie hat Schmerzen, sie weiß nicht, wer oder wo sie ist, und ein Ende ist nicht in Sicht, es zieht und zieht sich immer weiter hin, und die einzige Erlösung wäre, dass Mama endlich stirbt, also möchte ich, dass Mama stirbt, was ein ganz furchtbarer Wunsch ist, und auch mir wird das passieren, irgendwann in der Zukunft werde auchich sterben, und ich stecke hier in London fest und bin einsam und habe Angst, und ich muss meine Mutter auf die Bettpfanne heben, damit sie kacken kann, und dann muss ich
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