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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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während er irgendwohin gefahren wurde. Ein oder zwei seiner Mannschaftskollegen zogen ihn damit auf, dass er noch immer keinen Führerschein hatte – manchmal behaupteten sie im Scherz, er sei eben noch nicht alt genug dafür –, und Freddy sagte in solchen Fällen dann immer, er habe genug damit zu tun, Englisch zu lernen, und dass er sich das Autofahren als Nächstes vornehmen würde. Aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Freddy hatte es durchaus nicht eilig damit, den Führerschein zu machen; er zog es einfach vor, gefahren zu werden. London war so abwechslungsreich, und so grün, und so voller Details. Überall gab es Dinge, die hergestellt, weiterverkauft, zurechtgerückt, gepflegt, geformt, gewaschen und ausgestellt wurden – als stünde die ganze Stadt zum Verkauf. Auch die Menschen schienen irgendwie Ausstellungsstücke zu sein. Sie verhielten sich so, alsrechneten sie die ganze Zeit damit, angeschaut zu werden, als befänden sie sich unentwegt auf dem Präsentierteller. Die meisten sahen so aus, als trügen sie Kostüme. Das galt nicht nur für die Polizisten, Feuerwehrmänner, Kellner oder Verkäufer, sondern auch für die Leute, die ihre Ich-gehe-jetzt-zur-Arbeit-Kostüme trugen, oder ihre Ich-bin-eine-Mutter-die-einen-Kinderwagen-schiebt-Kostüme. Babys und Kinder hatten Kostüme an, Arbeiter trugen ihre leuchtenden orangefarbenen Westen wie Kostüme, während sie Löcher in den Boden gruben, Jogger trugen Joggerkostüme und sogar die Betrunkenen in den Straßen und Parks, ja, sogar die Bettler schienen Kostüme zu tragen, als handele es sich dabei um eine Uniform. Freddy fand das wunderbar, jedes einzelne Detail.
    In der Nähe des Wandsworth Parks wurden sie von einer roten Ampel angehalten. Freddy sah etwas, das er zunächst für eine Halluzination hielt: einen Papagei, nein, zwei Papageien, nein, einen ganzen Schwarm von Papageien, die in einem dieser dicken, dunklen, grünen, englischen Bäume saßen. Das schillernde Grün der Vögel hob sich hell leuchtend vom Laub ab. Dann wurde die Ampel grün, und Mickeys Aston donnerte los. Freddy blinzelte mit den Augen.
    »Mickey, ich glaube, ich habe gerade ein paar Papageien gesehen.«
    »Das sind die Wandsworth-Papageien. Es gibt ungefähr zwanzigtausend davon. Irgendein Idiot hat einige brütende Paare ausgesetzt, und jetzt haben wir den Salat. Die Erderwärmung hat natürlich auch ihren Teil dazu beigetragen. Aber dass sie es schaffen, hier den Winter zu überleben, spricht dafür, dass sie zähe kleine Viecher sind.«
    Freddy, der ohnehin schon gut gelaunt war, spürte, wie sein Herz höher schlug. Papageien!

49
    Roger hasste diese unheimlichen Karten, die andauernd in seinem Briefkasten landeten, die Karten, auf denen W IR W OLLEN W AS I HR H ABT stand. Sie hatten sich in seinem Kopf eingenistet und richteten dort allmählich ziemlichen Schaden an. Er kam sich so vor, als stünde er unter Überwachung, als würde man ihn beobachten, weil man etwas Böses plante. Und er hatte das Gefühl, dass man ihn beneidete, aber es war nicht die Art von Neid, die einen bestätigte und einem das wohlige Gefühl gab, erfolgreich zu sein. Auf diese Art beneidet zu werden war etwas, das Roger genoss. Der Gedanke, dass sich andere Menschen wünschten, sie verfügten über genauso viel materiellen Reichtum wie er, war eine Vorstellung, an der man sich gemütlich wärmen konnte wie an einem lustig flackernden Kaminfeuer. Aber diese Sache hier war anders. Es war eher so, als würde ihn jemand Tag und Nacht im Auge behalten und ihm insgeheim die übelsten Dinge an den Hals wünschen.
    Aber es hätte natürlich auch schlimmer sein können. Es gab Momente, in denen er es schaffte, die Angelegenheit einfach zu vergessen, und heute Abend war so ein Moment. An diesem Abend hatte Roger in seiner Funktion als Abteilungsleiter die Aufgabe, zusammen mit seinen Mitarbeitern eine »teamgeistfördernde Übung« abzuhalten.
    Ein Teil von Roger fand das absolut lächerlich – sowohl die Formulierung als auch den Gedanken an sich. Wenn man keinen Teamgeist hatte, dann konnte man ihn auch nicht fördern, indem man Paintball spielen ging oder Wildwasser-Rafting machte oder »diesen anderen Schwachsinn, den sie dich trainieren lassen, wenn du so’n Affenarsch aus den East Midlands bist, der Mitglied bei Al-Qaida werden will«, wie Roger es im kleinen Kreis seinergleichrangigen Kollegen gerne formulierte. Was war falsch daran, einfach zusammen in die Kneipe zu gehen? Aber so war es

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