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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Als sie noch klein war, hatte sich immer der nette, wenn auch etwas forsche Dr. Mitchell um sie gekümmert. Er war einer von diesen Männern, die ihr Leben lang so aussehen, als seien sie vierzig. Er schien nie älter zu werden, von der Zeit an, als er Ende zwanzig war, bis zu dem Tag, an dem er sich, ein Jahr nachdem sie Alan geheiratet hatte und nach Essex gezogen war, pensionieren ließ. Er hatte ihre Erkältungen behandelt, ihren Mumps diagnostiziert, ihr erstes Rezept für die Pille ausgestellt und als Zeuge bei ihrem ersten Reisepassantrag fungiert. Aber die Dinge hatten sich verändert. Es war fast unmöglich festzustellen, wer sich jetzt für ihre Mutter verantwortlich fühlte. Deswegen, und weil die Gemeindeschwestern ganz offensichtlich überfordert waren, bekam Mary das Gefühl, es sei einfach nirgendwo Hilfe zu bekommen. Wenn sie mit den Schwestern telefonierte, dann wurde sie immer wieder darauf hingewiesen, dass es bei einem Gehirntumor keine Probleme mit Schmerzen gab, weil »das Gehirn keinen Schmerz spüren kann«. Diesen Sachverhalt hatte man ihr, wie sie fand, schon mindestens zwanzig oder dreißig Mal zu oft erklärt. »Aber es sind die wundgelegenen Stellen, um die ich mir Sorgen mache«,sagte Mary dann, doch sie bekam den Eindruck, als hörten sie ihr gar nicht zu. Es war ganz so, als würde man mit einem von diesen Leuten telefonieren, die für eine Beratungs- oder Beschwerdestelle arbeiten und erst dann zuhören, wenn man genau die Sachen sagt, die auch in ihren Listen vermerkt sind. Und durch Marys Erschöpfung und Orientierungslosigkeit wurde alles nur noch schlimmer. Petunia hatte nun seit fast zwei Wochen weder einen Arzt noch eine Krankenschwester zu Gesicht bekommen, und Mary behandelte die wunden Stellen allein dadurch, dass sie sie säuberte und versuchte, ihrer Mutter die stärksten Ibuprofen-Tabletten einzuflößen, die sie finden konnte.
    »Ich denke, Sie könnten eine kleine Pause gebrauchen«, sagte die Frau, der sie vorher schon einmal begegnet war und die jetzt neben Mary auf der Erde hockte und ihre Hand hielt. Mary fing sofort wieder an zu weinen.

48
    Freddy Kamo ließ seinen Queue zurück und wieder vor gleiten, spielte die weiße an die schwarze Kugel und versenkte diese in der Tasche.
    »Verdammter Mist!«, sagte Mickey Lipton-Miller. »Scheiße! Verdammt verdammt verdammt! Das war reiner Zufall, du Glückspilz!«
    Es war halb drei Uhr nachmittags. Sie waren in Mickeys Club in West-London. Freddy trug einen Trainingsanzug und Mickey einen Dreiteiler, wobei er jedoch die Jacke ausgezogen hatte. Der Snooker-Raum verfügte über holzvertäfelte Wände, und an den Seiten standen Ledersessel, die um kleine Tische gruppiert waren, auf denen wiederum Lampen mit roten Schirmen standen. Es roch nach Zigarrenrauch. Der Raum war rundum perfekt. Zwei Freunde von Mickey saßen in den Sesseln und schwenkten riesige Kognakgläser in den Händen, die mit Hennessy X.O. gefüllt waren. Mickey gab gerade damit an, wie nahe er und Freddy sich standen. Viel besser konnte das Leben gar nicht sein, fand Mickey.
    Freddy steckte seinen Queue in den Ständer an der Wand.
    »Du musst ruhig bleiben«, sagte er. »Atme tief ein – so!« Mit dramatischer Geste holte er tief Luft und atmete dann übertrieben langsam wieder aus. »Du musst nur tun, was du mir selber immer rätst, und geduldiger werden.«
    Mickey hob seinen Queue und tat so, als wollte er Freddy eins über den Schädel ziehen. Dann seufzte er und senkte den Queue wieder.
    »Reiner Zufall«, sagte er noch einmal, etwas leiser – aber er wusste genau, dass es alles andere gewesen war als Zufall. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Freddy genau in diesem Raum vor zwei Monaten zum ersten Mal einen Billardqueue in die Handgenommen hatte. Wie alles, was Freddy tat, hatte es zunächst unbeholfen und linkisch ausgesehen. Aber der Queue glitt in seinen Händen genau an die Stelle, an die er ihn haben wollte, und die Kugel tat es ihm gleich. Freddy konnte Mickey mittlerweile im Snooker schlagen – und Mickey bildete sich ziemlich viel auf seine Snooker-Fertigkeiten ein.
    »Ich muss nach Hause«, sagte Freddy. »Ich habe um vier Uhr Unterricht.«
    »Aber was ist mit meiner Revanche? Okay, ich fahr dich heim. Adios, Jungs, lasst es knallen«, sagte Mickey. Er legte die Hand auf Freddys Schulter und schob ihn in Richtung Ausgang, aber Freddy – und das war typisch für ihn – wollte erst gehen, nachdem er sich auch von den anderen mit

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