Kapital: Roman (German Edition)
mitgegangen, aber mit 8/6 Offsuit wäre das ziemlicher Blödsinn gewesen. Roger musste den Small Blind entrichten und der Dünne Tony den Big Blind. Wenn Roger also ausstieg, würde der einzige halbwegs professionelle Spieler am Tisch eine Entscheidung treffen müssen.
»Du hast doch einen Scheiß auf der Hand. Das sehe ich dir an«, sagte der Dünne Tony. Michelle sagte nichts und tat nichts. »Typisch Frauen. Entweder sie steigen sofort aus, wenn man dagegen hält, oder sie versuchen, so zu tun, als hätten sie einen Schwanz. Und nicht nur irgendeinen Schwanz, nein, einen riesigen, gigantischen Prügel. Einen gewaltigen, kolossalen Schwengel. Hast du einen gewaltigen, kolossalen Schwengel, Michelle?«
Roger schaffte es einigermaßen, so zu tun, als schockierte ihn das nicht. Ein paar von den anderen grinsten, ein oder zwei runzelten die Stirn. Tony und Michelle kannten sich ziemlich gut, also musste er wohl wissen, ob er zu weit ging oder nicht. Zumindest hoffte Roger das. Michelle, das musste man ihr lassen, verzog keine Miene. Sie saß einfach nur da. Es kam Roger plötzlich in den Sinn, dass Tonys Stichelei ins Leere ging. Falls Michelle tatsächlich nichts auf der Hand hatte und trotzdem diese Aggressivität an den Tag legte, dann hatte sie das sorgfältig eingeübt. Wenn man sie auf diese Weise zu provozieren versuchte, rannte man nur gegen verschlossene Türen. Falls es ihr wirklich etwas ausmachte, wenn andere sie bezichtigten, sie täusche ihre Aggressivität nur vor, dannhätte Michelle in ihrem Job schon vor Jahren kapituliert. Tony würde also nichts aus ihr herausbekommen, wenn er sie mit ihrem eingebildeten Schwanz aufzog. Ganz plötzlich hatte Roger eine Ahnung: Michelles Blatt ist tatsächlich gut. Tony liegt falsch. Und gerade in dem Moment, als ihm dieser Gedanke kam, schob Tony mit seinem Arm alle seine Chips in die Mitte des Tisches und sagte: »All In.«
Michelle drehte ihre Karten um. Ass/König in Herz. Ihr Ruf, besonders angriffslustig zu sein, hatte Tony aufs Glatteis geführt. Er hatte geglaubt, sie gäbe vor, mit einem unbrauchbaren Blatt übertrieben aggressiv zu spielen. Doch in Wirklichkeit hatte sie ein absolutes Monster auf der Hand. Tony schaffte es immerhin zu lachen. »So eine Scheiße!« Er drehte seine Karten um und stand auf. Er hatte nichts auf der Hand: König/Bube, Offsuit. Der Geber verbrannte eine Karte und wendete die nächsten drei Karten auf einmal um. Es war nichts hochgekommen, was Tony irgendwie geholfen hätte. Dann kam die Turn Card. Es war ein Ass. Tony war geliefert. Er hob die Arme hoch und sagte: »Ich ergebe mich!« Alle lachten. Aber kurz bevor er das sagte, konnte Roger für einen flüchtigen Augenblick den Gesichtsausdruck erkennen, mit dem er Michelle anschaute: Es war tiefster, unverhohlener Hass.
Teamgeistförderung – ah, welch wundervolle Erfahrung.
Michelle verhielt sich jedoch sehr korrekt; sie beschränkte ihre Schadenfreude auf ein Minimum. Tony winkte dem Kellner und bestellte eine Flasche Sekt, die er dann in ungefähr vierzig Minuten austrank. In der Zwischenzeit waren drei weitere Spieler ausgeschieden. Das Spiel der Banker war, wie das eben ihrem Wesen entsprach, von verrücktem Machogehabe geprägt. Sie schienen ihren Stolz daraus zu ziehen, wie oft sie ein All-In riskierten. Es mussten nur noch ein oder zwei rausfliegen, und sie hätten genug Leute, um ein eigenes Spiel mit Bargeld anzufangen. Roger schaffte es an den letzten Tisch. Das war sein Minimalziel gewesen. Aber sein Stack war übel in sich zusammengeschrumpft, weil sich die Blinds immer weiter erhöht hatten. Er war gezwungengewesen, mit einem nur mäßig guten Blatt, einem Fünfer-Paar, All-In zu gehen. Darüber hinaus hatte er es sich nicht verkneifen können, noch ein paar Whiskeys zu trinken, und spürte nun auf angenehme Weise, wie sich in seinem Innern der Alkohol mit dem Adrenalin vermischte, so dass er sich gleichzeitig scharf und verschwommen, müde und aufgedreht, siegeshungrig und bettschwer fühlte. Als er einen Einsatz machte, hielt Mark dagegen. Sie hatten beide Ass/Bube, Suit, aber Marks Bube schlug den von Roger, und Roger schied aus. Er schob seinen Stuhl zurück. Es war ein Uhr morgens, aber er war nun so weit gekommen, dass er auch unbedingt wissen wollte, wer am Ende gewann.
Zu seinem großen Erstaunen war Mark der Gewinner des Abends. Um Viertel vor vier besiegte er Michelle. Mark wirkte so zappelig, unruhig und durchtrieben, dass er sich unmöglich
Weitere Kostenlose Bücher