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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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einschätzen ließ. Er war ununterbrochen damit beschäftigt, irgendeinen Teil seines Körpers zu berühren, sein Handgelenk, sein Ohr, seinen Ärmel, seine Brust – es war wie ein Veitstanz. Er schien immer gleich nervös zu sein, so dass man seine Körpersprache nur sehr schwer lesen konnte; es war sogar schwer, ihm einfach nur gegenüberzusitzen. Seine Nervosität machte auch seine Umgebung nervös, hielt ihn aber nicht davon ab, seine 5000 £ zu gewinnen. Rogers Crew, von denen die meisten betrunken waren, war ziemlich laut geworden. Sie brüllten, alberten rum und lehnten sich aneinander. Tony war auf einem der Sofas eingeschlafen. Es wurde ausgemacht, sich ein paar Taxis zu teilen. Einige beschlossen, zu einem Lokal in Spitalfields zu fahren, das die ganze Nacht geöffnet hatte und bereits um vier Uhr ein vollständiges englisches Frühstück servierte.
    Der Geber war schon gegangen. Der Kellner, ein Filipino, war noch in der Hoffnung auf ein Trinkgeld zurückgeblieben. Er bekam kein Gehalt – sein gesamtes Einkommen bestand aus Trinkgeldern. Und die fielen sehr unterschiedlich aus. Manchmal ging er morgens mit leeren Händen nach Hause, aber sein gegenwärtiger Rekord belief sich auf zehntausend Pfund. Diesmal bekam erzweihundert. Roger schob ihm das Geld zu, während er und zwei andere Männer Mark mehr oder weniger auf die Straße hinaustragen mussten. Aus Sicht des Kellners hatte der Abend damit ein glückliches Ende gefunden.

50
    Piotr redete noch immer nicht mit Zbigniew. Also redete auch Zbigniew nicht mehr mit Piotr. Aber sie wohnten noch zusammen. Es war überaus schwierig, mit jemandem ein Zimmer zu teilen, mit dem man kein Wort sprach. Wenn er nicht gerade sauer auf Piotr war, dann dachte Zbigniew, dass sie vielleicht irgendwann einmal über diese Zeit lachen würden. Aber im Augenblick war er meistens nur wütend. Piotrs Hang, den katholischen Moralapostel zu spielen – was immer schon seine schlimmste Seite gewesen war –, hatte fürs Erste ihre Freundschaft beendet.
    Das war jedoch ein Problem, denn obwohl sie sich gerade hassten und nicht miteinander sprachen, hätte Zbigniew den Rat seines alten Freundes gut gebrauchen können. Es war ihm klargeworden, dass er mit Davina Schluss machen musste, und zwar sehr bald, denn je länger er damit wartete, desto schlimmer würde er sich in die Sache verstricken und desto schwieriger würde es werden. Es war sehr leicht, kühne Pläne für eine Aussprache zu schmieden, wenn sie gerade nicht da war. Wenn er ihre Wohnung verließ, auf dem Nachhauseweg war oder während des ganzen darauf folgenden Tages hatte Zbigniew keinerlei Schwierigkeiten, eine Rede zu entwerfen, die seine Gefühle perfekt wiedergab: Ich mache Schluss mit dir, es ist vorbei, es liegt nicht an dir, es liegt an mir, wir sollten uns eine Weile nicht sehen, aber wir werden immer Freunde bleiben, trotzdem sollten wir uns erst mal nicht mehr treffen oder miteinander telefonieren. In solchen Momenten war er absolut sicher, was er tun musste, und auch, wie er es tun musste. Aber spätestens dann, wenn ungefähr die Hälfte der Zeit zwischen ihrem letzten Treffen und ihrem nächsten vergangen war, verflüchtigte sich diese Sicherheit, und während der Zeitpunkt, an dem er sie das nächste Mal sehen würde, näher undnäher rückte, wurde er immer nervöser. Und der wahrscheinliche Verlauf ihrer Unterhaltung wurde in seiner Fantasie zusehends düsterer und realistischer. Er würde undeutlich vor sich hinmurmeln, er würde alles falsch sagen, seine Rede würde wirr und chaotisch ausfallen, es war unmöglich, jemanden fallenzulassen und gleichzeitig zu glauben, man könne dann noch gut miteinander auskommen, und Davina war sowieso hysterisch, eine Verrückte, sie würde ausrasten, sie würde schreien, sie würde betteln, sie würde ihn anbrüllen und mit Gegenständen nach ihm werfen, sie würde weinen, sich an sein Bein klammern, es würde absolut unerträglich werden. Ein Desaster.
    Und wenn sie sich dann tatsächlich trafen, trat immer das ein, was er jedes Mal vergaß, in seine Berechnungen miteinzubeziehen. In ihrer Wohnung, auf dem durchgesessenen Sofa, im Pub, in der Kino-Bar, in der Pizzeria, immer wenn er ihr gegenübersaß und sie ansah, wurde er von dem Verlangen nach ihr überwältigt. Er dachte darüber nach, wie er mit ihr Schluss machen könnte, und gleichzeitig wollte er mit ihr schlafen. In solchen Momenten schien es dann immer ratsam, die Trennung zu verschieben und doch

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