Kapital: Roman (German Edition)
warum nicht, es war nur diese hölzerne Art, die sein Stellvertreter an sich hatte, sein Übereifer, seine übertriebene Zuvorkommenheit und seine salbungsvolle Körpersprache. Es hatte nie direkt den Anschein, als würden die Leute Mark nicht mögen, aber es schien ihn auch niemand so richtig ins Herz geschlossen zu haben. Etwas an ihm war zu viel, was auch immer das war. Roger, der bereits ein großes Glas Talisker intus hatte, dachte: Noch ein Geheimnis, das es nicht wert ist, gelöst zu werden. Ein viel größeres Problem war die Tatsache, dass er links neben dem Dünnen Tony saß. Dieser Spitzname rührte daher, dass man ihn von dem Fetten Tony hatte unterscheiden wollen, der jedoch zu dem Zeitpunkt, als der Dünne Tony in die Firma eintrat, Pinker Lloyd bereits verlassen hatte. Doch der Spitzname war im kollektiven Gedächtnis verankert geblieben, nicht zuletzt deshalb, weil der Fette Tony seine Mahlzeiten immer an seinem Schreibtisch eingenommen hatte. Und dabei hatte er nie nur eine einzige Sache gegessen – es waren jedes Mal mindestens drei Sandwiches von Pret A Manger oder vier Big Macs gewesen. Der Dünne Tony wurde zwar immer als »Essex Boy« bezeichnet, stammte aber eigentlich aus High Wycombe und hatte sein Studium mit Online-Poker finanziert. Roger wusste das deshalb, weil er ihn genau aus diesem Grund eingestellt hatte. Der Platz, den man beim Pokern auf keinen Fall erwischen will, ist der direkt rechts neben dem besten Pokerspieler. Das war also schon mal schlecht.
Zu seiner Rechten saß Michelle. Roger hatte die Erfahrung gemacht, dass sich weibliche Banker entweder übertrieben mädchenhaft und manipulativ gaben oder dass sie ein noch größeresAlphamännchengebaren an den Tag legten als die Alphamännchen selbst. Michelle gehörte in die zweite Kategorie. Sie war um die dreißig, stammte aus Bristol und trug immer ihre ganz eigene Uniform: Nadelstreifenhosenanzüge, wahnsinnig viel Make-up und sehr kurze Haare, die man fast als geschoren bezeichnen musste. Sie schlug absichtlich immer einen sehr scharfen Ton an und fluchte so gewissenhaft und sorgfältig, als hätte sie einen Kurs darin belegt. Und doch gab es da auch ein gewisses weibliches Element; ihre Kleider saßen immer eine Spur zu eng, als wollte ihre Fraulichkeit mit Gewalt hervorbrechen und ihr ganzes Rollenspiel Lügen strafen. Wenn Roger über dieses Phänomen nachdachte, was recht oft geschah, dann stellte er Vermutungen über ihr Wochenend- oder ihr Ferien-Ich an, und darüber, ob es womöglich weicher und sanfter war. Wenn er ihr bei der Arbeit beim Fluchen und Herumpöbeln zusah, dann fragte er sich unweigerlich, ob sie sich vielleicht am Wochenende auf einer Chaiselongue räkelte, sich ihre Fußnägel lackieren ließ, türkischen Honig naschte und Sex and the City schaute. Um ehrlich zu sein, war er ein wenig scharf auf sie, aber Roger passte bei der Arbeit höllisch auf, denn er kannte jene althergebrachte, ursprünglich aus dem italienischen Restaurantbetrieb stammende Devise der Finanzbranche nur zu gut: Besteigst du deine Angestellten, geht dein Geschäft vor die Hunde.
Ihr Geber erklärte ihnen die Regeln: Alle dreißig Minuten würde man die Blinds erhöhen, um das Spiel interessant zu halten. Roger wusste, dass man seinen Stack mindestens auf Durchschnittshöhe halten musste, die natürlich stieg, wenn einer oder mehrere Teilnehmer aus dem Spiel flogen. Diejenigen, die ausgeschieden waren, konnten nach Hause gehen oder an einem separaten Tisch mit ihrem eigenen Geld weiterspielen – und Roger war sicher, dass die meisten genau das tun würden. Aber jetzt konzentrierte er sich auf seinen Tisch. Er hatte oft genug Poker gespielt, um ein wenig Ahnung zu haben, aber nicht oft genug, um wirklich gut zu sein – wer hatte schon Zeit für so etwas?
Nach zwei Runden gab es nach dem Flop einen All-In. Es war natürlich Michelle, wer auch sonst. Es ließ sich schwer sagen, ob diese Entscheidung von Ahnungslosigkeit zeugte oder clevere Berechnung gewesen war. Vielleicht wollte sie sich von vorneherein den Ruf einer geradezu halsbrecherisch aggressiven Spielerin verschaffen. Das würde Michelle ähnlich sehen. Alle anderen hatten in der Runde gecheckt, deswegen konnte sie davon ausgehen, dass niemand etwas Brauchbares auf der Hand hatte. So wie er sie kannte, würde sie wohl versuchen, ihr Tisch-Image auf einer eher mittelmäßigen Hand aufzubauen. Wenn er nicht selbst ein so schlechtes Blatt gehabt hätte, dann wäre er
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