Kapital: Roman (German Edition)
Mohammed aufzuwecken. Der Prediger in der Wimbledon-Moschee sprach manchmal von dem Jihad gegen die kleinen Versuchungen und Faulheiten, von dem Jihad, aufzustehen und morgens sein Gebet zu verrichten. Wenn Ahmed noch vor der Morgendämmerung unten in der Küche stand, glaubte er zu wissen, was der Imam meinte.
Er machte sich einen Tee, nahm etwas von dem Naan von gestern aus dem Brotkasten und ging nach vorne, um den Laden zu öffnen und die Zeitungen reinzuholen. Ahmed liebte seinen Laden, liebte die Überfülle, die unglaubliche Menge an Zeug, die sich auf engstem Raum drängte, und das Gefühl der Sicherheit, das ihm das alles gab. All diese wahnwitzige Anhäufung von Druckerschwärze – The Daily Mail , The Daily Telegraph , The Sun , The Times , Top Gear , The Economist , Women’s Home Journal , Heat , Hello! , The Beano und Cosmopolitan , die zahllosen Sorten von industriell hergestellten Süßigkeiten und Schokoladen, die gebackenen Bohnen und das weiße Brot, Marmite und Instantsuppen und die ganzen anderen ungenießbaren Sachen, die die Engländer so aßen, und die Müllbeutel, die Aluminiumfolie, Zahnpasta undBatterien (hinterm Ladentisch, wo man sie nicht stehlen konnte), die Rasierklingen, Schmerztabletten und Keine-Reklame-Aufkleber, die er erst letzte Woche ins Sortiment genommen hatte und schon zweimal hatte nachbestellen müssen, das Achtzig-Gramm-Laserdruckerpapier und die DIN-A4-Umschläge, die so beliebt geworden waren, seit man das Preissystem bei der Post umgestellt hatte, der Kühlschrank voll von Erfrischungsgetränken und der daneben voller Alkohol, die Ribena-Flaschen und das Fruchtsaftkonzentrat, der Kreditkartenautomat, das Aufladegerät für die Fahrkartenchips und die Lotterie-Annahmestelle – all das fühlte sich gemütlich und behaglich und sicher an, es war sein ureigenster Ort, und das vor allem frühmorgens, wenn er den Laden ganz für sich hatte. Das gehört mir, dachte er, das ist alles meins. Ahmed drehte die Lautstärke des CD-Spielers hinter dem Ladentisch herunter und drückte dann auf die Play-Taste. Ganz leise hörte er das Lied »My Ummah« von Sami Yusuf. Später am Tag würde er dann auf das Radio und den Sender Capital Gold umschalten. Nicht alle Leute mochten Sami Yusuf, aber keiner hatte etwas gegen Oldies. Und dann musste er sich auch schon zum ersten Mal an diesem Tag ärgern: Dieser dämliche Mistkerl Usman hatte wieder einmal sein Unwesen getrieben. Die Regale neben dem Ladentisch, wo der Alkohol stand, waren von einem Rollo verdeckt. Das Gleiche galt für den Kühlschrank, in dem Bier und Weißwein aufbewahrt wurden.
Usman war Ahmeds jüngerer Bruder, ein nicht sehr erwachsener (fand zumindest Ahmed) streitsüchtiger (fanden alle) achtundzwanzigjähriger Mann, der seine Zeit zwischen der Arbeit im Geschäft und einem Promotionsstudium in Maschinenbau aufteilte (und in Ahmeds Augen war das eher ein Studium in Anführungszeichen). Entweder machte Usman gerade eine sehr fromme Phase durch, oder er tat nur so, wobei Ahmed die zweite Möglichkeit für wesentlich wahrscheinlicher hielt. Was auch immer zutraf, er machte ein Riesentheater aus seiner Abneigung gegen den Verkauf von Alkohol oder Zeitschriften mit nackten Frauen aufdem Cover. Muslime durften nicht blablabla. Als wüssten nicht alle in der Familie sehr wohl über diese Dinge Bescheid. Aber sie kannten eben auch die wirtschaftlichen Zwänge, denen sie unterworfen waren. Es gab keinen Grund dafür, das Rollo runterzulassen. Das geschah nur in den Zeiträumen, für die das Geschäft keine Lizenz besaß. Auf diese Weise signalisierten sie den Kunden, dass es im Augenblick illegal war, Alkohol zum Verkauf anzubieten; aber gestern Abend hatten sie den Laden um elf geschlossen, und ihre Lizenz erlaubte es ihnen ausdrücklich, bis elf Uhr abends Alkohol zu verkaufen. Usman hatte gestern Abend als Letzter den Laden verlassen, und sein neuester Trick bestand darin, die Rollos runterzulassen, sobald Ahmed weg war. Dann durfte man raten, ob er seine Skrupel dennoch überwunden und den Ungläubigen Alkohol verkauft hatte. Alles nur Augenwischerei.
Ahmed schloss die Eingangstür auf und hievte das untere Ende des Rollladens hoch. Das war immer der schwierigste Teil. Dann schob er den Rollladen so leise wie möglich nach oben unter die Markise. Es war ein kalter Tag, und sein Atem dampfte in alle Richtungen. Um die Ecke konnte er das Surren des elektrischen Milchwagens hören. Er musste ihn gerade verpasst haben.
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