Kapital: Roman (German Edition)
Ahmed zog leise schnaufend die Zeitungen ins Ladeninnere und machte die Tür wieder zu. An schlechten Tagen, wenn Rohinka mit den Kindern beschäftigt war und er den ganzen Tag im Laden zu tun hatte, war dieser kurze Moment seine einzige sportliche Betätigung.
Dann machte er sich an das Auspacken und Auslegen der Zeitungen und legte die Stapel für die drei Zeitungsausträger zurecht, die immer um kurz nach sechs kamen. Dabei schimpfte er die ganze Zeit vor sich hin. Er liebte Usman, keine Frage, aber er war unbestreitbar ein mieses kleines Arschloch. Wenn sein kostbares Gewissen es ihm nicht erlaubte, Alkohol zu verkaufen, dann sollte er das einfach klipp und klar sagen, dann hätte ihm Ahmed nämlich mal so richtig den Kopf waschen können und hätte – das warnatürlich der eigentliche Grund dafür, warum Usman nicht offen Farbe bekannte – ihre Mutter in Lahore über Skype angerufen. Ha! Das wäre mal so ein richtiges Vergnügen. Ein Klassiker. Mrs Kamal würde schreien, toben und kreischen. Sie würde jeden einzelnen Fehltritt Usmans anprangern, nichts auslassen und nichts beschönigen, und dann würde sie all die wunderbaren Dinge aufzählen, die man für ihn getan hatte. Als Nächstes würde sie in grellen Farben die Kluft zwischen Usmans Schlechtigkeit und der Güte seiner Familie beschreiben und Allah anflehen, er möge ihr doch sagen, was sie getan hatte, um ein solches Schicksal zu verdienen. Sie würde Allah bitten, dass er sie auf der Stelle töte, um ihr weitere Beweise einer so himmelschreienden Undankbarkeit zu ersparen. Sie würde so richtig in die Luft gehen, ja geradezu die Erdumlaufbahn verlassen. Und das wäre erst der Anfang. Das Aufwärmprogramm sozusagen. Sie würde Usman derart die Meinung geigen, dass er womöglich sofort tot umfiel. Die Welt würde erkennen, dass Pakistan seine atomaren Abschreckungswaffen überhaupt nicht nötig hatte, denn es hatte ja bereits Mrs Kamal senior.
Was Ahmed an seinem jüngeren Bruder am meisten aufregte, war seine Selbstgerechtigkeit. Usman zeigte seinen beiden Brüdern klar und deutlich, dass er sich dank seiner neu entdeckten religiösen Skrupel für einen besseren Muslim, einen besseren Menschen hielt als sie. Das war nicht leicht zu verkraften, insbesondere deswegen, weil er es nur durch sein Gesicht und seine Körpersprache ausdrückte und nicht etwa laut sagte – dann hätte man ihn wenigstens anbrüllen können. Dieser Gesichtsausdruck, wenn er Zeitschriften wie Zoo oder Nuts ins Regal stellte oder einem Kunden Wechselgeld gab, der gerade eine Flasche Wein gekauft hatte! Er sah dann immer aus wie ein Rottweiler, der auf eine Wespe gebissen hatte. Manchmal, wenn Usman am Abend vorher gearbeitet oder wenn er die erste Schicht am Wochenende gemacht hatte, fand Ahmed die Männermagazine am hintersten Ende des Regals versteckt, hinter den Auto- und Computerzeitschriften.Es war ganz klar, dass es Usman gewesen war. Aber wenn Ahmed ihn darauf ansprach, behauptete er, die Kunden seien schuld. Es handelte sich um ein Geschäft, man musste den Leuten eben etwas verkaufen. Es konnte doch nicht darum gehen, möglichst viele Leute davon zu überzeugen, dass es schlecht war, Bier zu kaufen, nur indem man sie finster anstarrte. Usman stand hinterm Ladentisch mit hochgezogenen Schultern und seinem neuen dämlichen struppigen Bart und sah aus wie ein Terrorist auf einem Fahndungsplakat.
Und wo gerade die Rede vom finsteren Anstarren war – Ahmed hörte, wie jemand die Treppe herunterpolterte. Dem Klang der Fußstapfen nach zu urteilen und wegen der resoluten Weise, mit der beim Heruntergehen auf die Stufen eingetrampelt wurde, konnte es sich nur um Fatima handeln. Er schaute auf die Uhr: Es war sechs. Sie wachte oft um diese Uhrzeit auf. Und in der Tat, es war seine Tochter. Sie kam in den Laden und stemmte entrüstet die Hände in die Hüften.
»Papa! Papa! Wie spät ist es?«
»Es ist früh, mein Schatz, noch ganz früh am Morgen. Magst du nicht noch mal ins Bett gehen? Es ist kalt hier unten, und Papa muss arbeiten.«
»Nein, Papa, ich will frühstücken!«
»Es ist ein bisschen zu früh fürs Frühstück, mein Herzchen.«
»Ich wecke Mama auf! Sie macht mir Frühstück!«
»Nein, Schatz, lass das bitte sein.«
»Ich wecke Mohammed auf, und dann weckt der Mama auf, und dann macht sie mir Frühstück, aber Mohammed ist dann schuld, dass sie wach ist!«, erklärte Fatima.
»Okay, ich mach dir Frühstück, mein Mäuschen. Und ich mach dir sogar einen
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