Kapital: Roman (German Edition)
Tee!« Tee war etwas Neues für sie und deshalb etwas ganz Besonderes. Beim Teetrinken konnte sich Fatima wie eine Erwachsene fühlen. Ahmed nahm seine Tochter bei der Hand und ging mit ihr in die Küche. Dabei nahm er das letzte Paket Zeitungen mit, das für die Pepys Road vorgesehen war. Er würde esmit Adressen versehen, und die Zeitungsjungen konnten es dann mitnehmen. Als er das Paket aufhob, sah er etwas auf dem Boden, eine Karte, die man durch den Briefschlitz geschoben haben musste, während er beschäftigt gewesen war. Irgendein Idiot, der eine Anzeige auf dem Anschlagbrett haben wollte und zu faul gewesen war, persönlich in den Laden zu kommen, oder zu blöd, um zu sehen, dass der Laden schon geöffnet war, dachte Ahmed. Aber während er immer noch Fatimas Hand hielt, schaute er die Karte genauer an und sah, dass es ein Foto seines Ladens war und auf der Rückseite die Worte » W IR W OLLEN W AS I HR H ABT « standen. Ungefähr drei Sekunden lang fragte sich Ahmed, was das wohl zu bedeuten hatte, aber dann lehnte sich seine ihn immer noch an der Hand haltende Tochter im rechten Winkel nach vorne, überließ sich voll und ganz der Macht der Schwerkraft und schaffte es, ihn hinter sich her in die Küche zu ziehen.
5
Shahid Kamal ging mit schnellen Schritten die Straße hinunter. Zwischen acht Uhr morgens und sechs Uhr abends war er für eine Schicht im Familiengeschäft eingeteilt, aber er war früh dran, und es gab einiges, was er mit dieser zusätzlichen halben Stunde hätte anfangen können: Er hätte im Bett bleiben können, er hätte sich in das Café setzen können, das direkt unter seiner Wohnung lag, um ein Buch zu lesen, oder er hätte eine halbe Stunde ins Internet gehen können, um die Nachrichten zu überfliegen, seine Myspace-Seite zu checken und einen Blick in seine verschiedenen Diskussionsforen zu werfen. Stattdessen hatte er sich dazu entschieden, noch schnell eine Runde zu drehen. Vor fünf Jahren war sein Vater in Lahore ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben, gerade mal zweiundsechzig Jahre alt, und sein Bruder Ahmed fing bereits an, ein wenig wie der Vater auszusehen: müde, schlecht in Form, übergewichtig, blass. Shahid sah schon die ersten Vorzeichen, er kannte den Körpertyp der Familie. Jetzt, da er über dreißig war, musste er sich unbedingt fit halten, wenn er nicht selbst zu einem dieser zahllosen, mit Gheebutter gemästeten Südasiaten mit Kugelwampe und hohem Blutdruck werden wollte. Also ging er auf Umwegen und in möglichst zügigem Tempo zur Arbeit. Auf dem Bürgersteig war viel los, zum Großteil Leute auf dem Weg zur Arbeit, die Aktentaschen, Umhängetaschen oder Handtaschen trugen und zum Schutz vor der Kälte die Köpfe eingezogen hatten. Shahid hatte keine Tasche, er zog es vor, sich ungehindert bewegen zu können.
Kurz bevor er zur Ecke Pepys Road kam, wechselte er die Straßenseite und bog in Richtung Park ab. Er wollte nicht, dass Ahmed ihn sah. Er hätte ihn gerufen, und dann hätte er im Geschäft helfen müssen. Morgens, wenn die Leute zur Arbeit gingen, warder Kundenandrang immer besonders hoch. Er hatte noch zwanzig Minuten.
Es war kalt, aber Shahid hatte nichts gegen Kälte, solange er in Bewegung bleiben konnte. Er erreichte den Park, ging an der Kirche und dem schwarzen Brett vorbei, auf dem die Gemeinde Werbung für sich machte, und lief weiter in Richtung Musikpavillon. Hin und zurück waren das ungefähr zwanzig Minuten, also wäre er pünktlich bei der Arbeit. Aus allen Himmelsrichtungen hasteten Pendler der U-Bahn-Station entgegen, und zahlreiche Radfahrer schlängelten sich durch die Menge. Obwohl Shahid genau wie die anderen auch auf dem Weg zur Arbeit war, war er heilfroh, dass er sich nicht zu irgendeinem Bürojob schleppen musste. Shahid war der Meinung, dass alle, die während der Arbeit einen Anzug tragen mussten, innerlich jeden Tag ein ganz klein wenig starben.
Shahid war der Freigeist der Familie Kamal: ein Träumer, Idealist und Wanderer über Gottes weite Erde – oder, wie Ahmed sagen würde, eine faule Sau. Man hatte ihm einen Platz in Cambridge angeboten, um Physik zu studieren, aber er hatte die Sache vermasselt. In seinem letzten Schuljahr hatte er es fertiggebracht, keinen Finger mehr zu krümmen, und seine Abiturnote war dann einfach nicht gut genug gewesen. Er schrieb sich stattdessen an der Universität von Bristol ein, brach jedoch nach nur einem Jahr sein Studium ab, weil er sich zu einer Mission nach Tschetschenien
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