Kapital: Roman (German Edition)
berufen fühlte, um seinen dortigen Religionsbrüdern beizustehen. Er war vier Monate weg. Obwohl die ganze Kamal-Familie die Sache als Witz abtat, konnte Shahid damals keineswegs darüber lachen. Tschetschenien war furchtbar gewesen, eine brutale Desillusionierung. Shahid erinnerte sich hauptsächlich daran, dass man ihn angeschrien hatte und dass er sich die ganze Zeit in einer Zone der moralischen Ambivalenz bewegt hatte, während er doch davon ausgegangen war, das helle Licht der Tugend würde ihm den Weg weisen. Es war überaus schwierig gewesen, unter all den Guten die wirklich Guten zu erkennen, und er hatte unter Kälte,Hunger und Angst gelitten, bis er sich schließlich mit Diphtherie ansteckte und man ihn auf demselben Weg aus dem Land hinausschmuggeln musste, auf dem er hineingekommen war. Die Reise dorthin war jedoch sensationell gewesen, die beste Zeit seines Lebens. Er war allein losgefahren, hatte sich in Brüssel mit einigen gleichgesinnten Idealisten zusammengetan und war dann per Anhalter und mit verschiedensten Mitfahrgelegenheiten bis zur russischen Grenze gekommen. Dort hatten sie sich einen Platz in einem Konvoi erschwindelt und waren mit ihm auf einer ebenso beängstigenden wie berauschenden Fahrt mitten durch russisch besetztes Gebiet und quer durch die tschetschenischen Stellungen hinein in das von Belagerung bedrohte Land gelangt. Er hatte keine Ahnung, was er dort eigentlich wollte, allenfalls das vage Gefühl, dass seine Brüder in Gefahr waren, dass Muslime getötet wurden und niemand etwas dagegen tat, und dass es also seine Pflicht war, etwas zu unternehmen. Es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen des Lebens, dass man dämliche, unausgegorene, idealistische Dinge tun durfte, wenn man achtzehn war. Das Beste an der ganzen Sache war das Gefühl gewesen, etwas Sinnvolles zu tun, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen und Teil einer Mission von höherer Bedeutung zu sein. Das hatte sie auf der Reise nach Tschetschenien zusammengeschweißt, ihn, zwei Typen aus Birmingham, einen Franzosen algerischer Herkunft namens Yakoub und drei belgische Muslime, von denen zwei zum Islam konvertiert waren. Sie alle waren von großer Zielstrebigkeit, Disziplin und dem Willen erfüllt gewesen, für eine gute Sache zu kämpfen. Er dachte fast nie an Tschetschenien, aber er dachte oft an die Reise dorthin. Shahid war sich durchaus der Ironie bewusst, dass er, der doch seine Freiheit und seinen Wahrheitsdrang über alles schätzte, sich gerade dann am wohlsten gefühlt, als er ein klar definiertes Ziel vor Augen und das Gefühl gehabt hatte, seine Pflicht zu tun und Verantwortung zu übernehmen.
Seitdem hatte er nicht mehr viel gemacht, oder jedenfalls nichts, was in einem Lebenslauf etwas hermachen würde. Er verbrachteein paar Monate damit, sich von seinem Magenvirus zu erholen. Ironischerweise konnte er danach keinen Alkohol mehr vertragen – er bekam davon sofort Durchfall. Nicht genug, dass er seine Mission, die Umma zu retten, hatte aufgeben müssen, nun war er auch noch zu lebenslanger Abstinenz verdammt. Er war zwar nie ein starker Trinker gewesen, aber zu einem Glas Cidre ab und zu hatte er nicht nein gesagt … Sobald es ihm wieder besser ging, arbeitete er im Laden und widmete sich einer Reihe von Hobbys. Aus einigen wäre fast ein Job geworden. Eine Weile war er verrückt nach Kampfsport, erst lernte er Tai Chi, dann Wing Chun und schließlich Karate. Mehrere Jahre lang verbrachte er jede freie Minute in irgendeinem Dojo. Er schätzte die Disziplin und die unaufdringliche Spiritualität des Kampfsports, und ebenso die Tatsache, dass Respekt und Höflichkeit darin eine große Rolle spielten: Der Kampfsport hatte die gleiche Strenge wie eine religiöse Praxis, aber nicht diese metaphysische oder politische Überfrachtung. Außerdem lernte man dabei, wie man so richtig die Scheiße aus jemandem herausprügeln konnte. Aber sein Interesse an Karate verschwand genau in dem Moment, als er die Prüfung zum schwarzen Gürtel bestand, der Moment, in dem er mit dem Unterrichten hätte anfangen können. Etwas an der Vorstellung, Autorität über andere zu haben, ihnen zu sagen, was sie tun sollen, und sie herumzukommandieren, widerstrebte ihm. Das passte einfach nicht zu ihm.
Nach seiner Kampfsportphase interessierte sich Shahid für Computer. Es war Ende der Neunziger – das Internet feierte gerade seine ersten Siegeszüge. Er brachte sich selbst HTML bei und half anderen beim Erstellen von Websites –
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