Kapital: Roman (German Edition)
Seite und zog laut und vernehmlich Luft durch die Nase ein. Gleich darauf tat er dasselbe noch einmal. Schließlich richtete er sich auf.
»Du riechst falsch«, sagte er. Und dann ging er.
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Kriminalinspektor Mill saß an seinem Schreibtisch vor einem Stapel mit Akten und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Im
übrigen Raum herrschte der gewohnte Trubel. Mill sah aus wie die Schwermut in Person. Bei dem Stapel handelte es sich um die » W IR W OLLEN W AS I HR H ABT «-Ermittlungsakten. Es hatte
sich noch einiges mehr an Material angesammelt, denn es kamen immer neue Beschwerden aus der Pepys Road hinzu. Der Auftrag war ein absoluter Albtraum:
Eine ziemlich bedeutende Anzahl reizbarer, wohlhabender Bürger aus der oberen Mittelschicht war sehr verärgert, und es war überaus unerfreulich, sich mit
ihnen auseinandersetzen zu müssen. Das lag nicht zuletzt daran, dass man sich nie mit ihnen unterhalten konnte, ohne dass sie unweigerlich in jedem
dritten Satz erwähnten, was für hohe Steuern sie zahlten. Es gab keine eindeutigen Hinweise, keine dringenden Verdächtigen, kein erkennbares Motiv und
keine naheliegende Vorgehensweise für die Ermittlungen. Und bis vor Kurzem hatte auch kein eindeutiges Verbrechen vorgelegen. Es ließ sich nicht mit
vollkommener Klarheit sagen, in welcher Weise die Person oder die Personen, die hinter der Kampagne standen, gegen das Gesetz verstoßen hatten. Aber dann
ging eine Veränderung mit W IR W OLLEN W AS I HR H ABT vor. Kurz nach dem Jahreswechsel waren zunächst keine neuen Karten und Videos mehr aufgetaucht, und der Blog wurde nicht mehr aktualisiert. Er war nicht gelöscht worden, aber es gab auch keine neuen Einträge. Dann, ungefähr einen Monat später, war der Blog ganz plötzlich verschwunden. Als er das entdeckte, boxte Mill, der die Webseite mit einem Lesezeichen markiert und jeden Tag zweimal besucht hatte, in einer Siegergeste mit der Faust in die Luft. Fantastisch! Das war die beste Sorte von Problemen: Solche, die ganz von allein verschwanden.Die gesamte Geschichte konnte in jene große, glückliche Kategorie von Angelegenheiten sortiert werden, die man einfach ignorierte, bis sie eines Tages nicht mehr wichtig waren.
Aber dann, ungefähr einen Monat später, passierte die Katastrophe: Jede einzelne Person in der Straße erhielt eine brandneue Postkarte mit dem Foto ihrer Haustür, auf deren Rückseite lediglich eine kurze Internetadresse stand. Mill gab die Adresse in den Computer, und siehe da, der Blog war zurück, auf einer neuen Plattform, mit dem gesamten Inhalt von früher – doch jetzt war die Sache viel schlimmer geworden. Es waren zwar noch immer dieselben Bilder, aber jemand hatte sie mit digitalen Graffiti verunstaltet und Schimpfwörter quer über die Fotos gelegt. Nicht über alle, nur über einige von ihnen, aber dafür waren die Beleidigungen sehr direkt: »Reiche Fotzen«, »Wichser«, »Arschlöcher«, »Konservativer Abschaum«, »Tod den Kapitalisten« und so weiter.
Die Sache hätte also eigentlich ein Albtraum für Mill sein sollen. Erst war das Problem verschwunden, und jetzt war es plötzlich wieder aufgetaucht. Im Prinzip hätte das das perfekte Rezept für jene Schwermut abgegeben, die Mill mit seinem in den Händen vergrabenen Kopf auszustrahlen schien. Aber in Wirklichkeit war er gar nicht schwermütig, nicht im Geringsten. Was er hauptsächlich empfand, war Neugier. Ein Großteil der Polizeiarbeit besteht aus Routine. Mill beschwerte sich nie darüber, denn so war der Job nun einmal, das lag in der Natur der Sache. Und wenn die Arbeit einmal nicht aus Routine bestand und man nicht genau wusste, was passiert war, dann wusste man es in gewisser Weise eigentlich doch. Wenn irgend so ein mit Drogen handelnder Arsch im Treppenhaus vor seiner Sozialwohnung verblutete, dann wusste man, wer dahintersteckte, selbst wenn man es eigentlich nicht wusste: irgendein anderer Arsch, der mit Drogen handelte. Wenn ein kosovarischer Zuhälter vor einer Dönerbude erschossen wurde, dann galt das Gleiche. Aber dieser Fall war anders, und obwohl die moralischen Grundsätze der Polizeiwache es ihm verboten, das laut auszusprechen, war er froh, dass die Akte wieder offen war. Erhatte ungefähr eine Dreiviertelstunde damit verbracht, das neue Material auf der Webseite zu sichten, und das Gefühl, das bei ihm gerade vorherrschte, war gutgelaunte Neugier. Aber es gab da noch den winzigen Hauch einer anderen Empfindung. Das neue Material
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